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Schlägt die „gerechte“ Leistung das „ungerechte“ Bildungssystem?

Autor

Georgiy Michailov

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Oder: Warum vietnamesische Kinder im deutschen Bildungssystem besser abschneiden

Eine Studie des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München aus dem Jahr 2023 zeigt, dass die Bildungs­chancen in Deutschland sehr stark von der sozialen Herkunft abhängen. Kinder, die in finanziell schwachen Familien ohne akademischen Hintergrund aufwachsen, besuchen demnach deutlich seltener ein Gymnasium als ihre Altersgenossen aus wohlhabenderen Haushalten, in denen mindestens ein Elternteil Abitur hat. Hier liegt eine große Herausforderung: Bildungsgerechtigkeit.

Professor Ludger Wößmann, Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik, sagt:

„Die entscheidenden Faktoren für die Bildungschancen von Kindern in Deutschland sind Bildung und Einkommen der Eltern. Weniger bedeutend ist ein Migrations­hintergrund.“

So genannte einfache Ressourcen-Investitions-Modelle, die die Ausstattung der Herkunftsfamilien mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital berücksichtigen, erklären zum einen, warum Kinder und Jugendliche, die aus sozioökonomisch bessergestellten Familien stammen, aufgrund ihrer besseren Ressourcenausstattung häufig bessere Bildungsergebnisse erzielen. Zum anderen zeigen diese Modelle aber auch, warum Maßnahmen, die die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem verbessern wollen, nicht nur auf die Bereitstellung von Ressourcen abzielen sollten, sondern auch darauf, wie diese Ressourcen genutzt werden – um allen Kindern und Jugendlichen die bestmöglichen Bildungschancen zu eröffnen.

Tatsächlich haben zahlreiche empirische Studien, die sich mit Migrantenminderheiten in den USA befassen, nicht nur signifikante ethnische Unterschiede in der Bildungsbeteiligung und im Bildungserfolg aufgezeigt. Sie haben auch die Annahmen einfacherer Versionen des Ressourcen-Investitions-Modells in Frage gestellt (die häufig nicht die unterschiedlichen Auffassungen über die Bedeutung von Investitionen in Bildung berücksichtigen, sondern allein auf Unterschiede in der Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital abstellen).

Unter Verwendung unterschiedlicher Maßstäbe zur Messung von Bildungsbeteiligung und Bildungserfolg kommen diese Studien wiederholt und übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Jugendliche aus Migrantenfamilien mit ostasiatischem Hintergrund bessere Bildungs­ergebnisse erzielen als ihre Altersgenossen aus der einheimischen Bevölkerung mit einem europäisch-amerikanischen Hintergrund.

So fassten es die Wissenschaftler Bernhard Nauck (Professor der TU Chemnitz) und Birger Schnoor (Dozent an der Universität Hamburg) 2015 in einem Beitrag für die „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ zusammen.

Daten aus Deutschland bestätigen diese Perspektive. Auch hierzulande gibt es offenbar ein Bildungsgefälle entlang ethnischer Linien. Nauck und Schnoor verweisen auf Studien, denen zufolge Jugendliche türkischer Herkunft im Bildungserfolg deutlich hinter den deutschen Jugendlichen zurückbleiben – und beide Gruppen klar hinter ihren vietnamesischen Altersgenossen. Diese setzen mit beeindruckenden Bildungsleistungen neue Maßstäbe, wie ein Blick auf Zahlen verdeutlicht.

So besuchten im Schuljahr 2013/2014 nur 19,9 Prozent der türkischen Jugendlichen ein Gymnasium, immerhin 47,2 Prozent der deutschen Jugendlichen – und bemerkenswerte 64,4 Prozent der vietnamesischen Jugendlichen.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den höheren Bildungsabschlüssen: 42,4 Prozent der 18- bis 25-jährigen Deutschen haben die Fachhochschulreife oder das Abitur. Demgegenüber können nur 18,1 Prozent der türkischen Jugendlichen dieser Altersklasse einen solchen Abschluss vorweisen – doch mit einem Anteil von 53,9 Prozent sind die vietnamesischen Jugendlichen beiden Gruppen weit enteilt. Diese Zahlen verdeutlichen die unterschiedlichen Bildungserfolge verschiedener ethnischer Gruppen in Deutschland.

Laut Nauck & Schnoor zeigen Studien, dass die Eltern vietnamesischer Kinder über ein geringeres soziales Kapital verfügen als türkische Eltern – und beide über ein deutlich geringeres soziales Kapital als deutsche Eltern. Ähnlich verhält es sich beim ökonomischen Kapital: So verfügen vietnamesische Familien über ein geringeres Einkommen als türkische und beide deutlich weniger als deutsche Familien.

Das Bildungsniveau vietnamesischer Eltern indes entspricht in etwa dem von deutschen Eltern – und liegt über dem von türkischen Eltern.

Ginge es nach den klassischen Modellen, sollte es im deutschen Schulsystem keine signifikanten Unterschiede im Bildungserfolg zwischen vietnamesischen und türkischen Jugendlichen geben. Erst recht nicht zu erwarten wäre, dass vietnamesische Schülerinnen und Schüler besser abschneiden als ihre deutschen Altersgenossen.

Doch die vietnamesischen Kinder übertreffen beide Gruppen bei weitem!

In ihrer empirischen Studie, in der Nauck & Schoor mit 720 deutschen, vietnamesischen und türkischen Familien die Befunde anderer Untersuchungen zu replizieren versuchen, zeigt sich sogar, dass sich der Vorsprung vietnamesischer Kinder gegenüber der deutschen Referenzgruppe noch vergrößern würde, würden die Ressourcen der vietnamesischen Familien auf ein Niveau gebracht, das dem der deutschen vergleichbar wäre.

Die vietnamesischen Jugendlichen sind also ungewöhnlich erfolgreich – und das trotz der in der empirischen Bildungsforschung als klassisch geltenden Ursachen für Bildungsbenachteiligung.

Studien von Soziologen und Bildungsforschern zeigen, dass vietnamesische Eltern eine starke Aufstiegsorientierung haben und Bildung als Schlüssel für das (spätere) physische Wohlergehen und die soziale Anerkennung ihrer Kinder sehen.

Diese Einstellung, gepaart mit einer Betonung von Werten wie Fleiß und Disziplin, die in vielen westlichen Bildungskontexten in den Hintergrund getreten sind, scheinen zu bemerkenswerten Bildungserfolgen zu führen.

Die Antwort auf Unterschiede im Bildungserfolg von Kindern liegt somit nicht nur in der so oft geforderten Anpassung unseres Bildungssystems und der exogenen Herstellung von Chancengerechtigkeit, sondern auch in der Veränderung der gesellschaftlichen Einstellung zur Bedeutung von Bildung.

Wir müssen eine Kultur fördern, die Anstrengung belohnt, Bildungserfolge feiert und jedes Kind ermutigt, sein volles Potenzial zu entfalten.

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

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