Logo

Insights

Zwischen positiven Minderwertigkeits­gefühlen und negativen -komplexen

Autor

Georgiy Michailov

Teilen

Oder: Wie man mit Individualpsychologie im Leben weiterkommt

Ganz zufällig bin ich auf das Hörbuch „Du musst nicht von allen gemocht werden: Vom Mut, sich nicht zu verbiegen“ des japanischen Autorenduos Ichiro Kishimi und Fumitake Koga, das von den Hörern mit fast 12.000 fünf Sternen bewertet wurde. So etwas ist keineswegs selbstverständlich, und gepaart mit der Grundidee eines sokratischen Dialogs, der auf der Psychologie Alfred Adlers basiert, hat dieses Buch sofort meine Aufmerksamkeit erregt.

Alfred Adler war Anfang des 20. Jahrhunderts ein Zeitgenosse und Freund von Sigmund Freud. In Wien gehörte er zu den ersten Mitgliedern der „Mittwochsgesellschaft“, in der Freud über Psychologie diskutierte und Vorträge gehalten wurden. Später verließ Adler diesen Kreis im Streit und entwickelte – aufbauend auf einer 1907 publizierten Studie – die Individualpsychologie. Diese betont die Einzigartigkeit jedes Menschen und die Bedeutung sozialer Beziehungen. Adlers Lehre stand im Gegensatz zu Freuds Annahmen, da sie den Menschen ganzheitlich betrachtete (statt die Seele in Ich, Über-Ich und Es zu teilen) und nicht die Ursache, sondern das Ziel menschlichen Verhaltens im Vordergrund sah. Demnach werden Menschen weniger von ihrer Vergangenheit angetrieben. Vielmehr handeln sie, um ein bestimmtes, ihnen wichtiges Ziel zu erreichen.

Das hieß im Kern: Wir werden zwar von unserer Vergangenheit beeinflusst, aber sie bestimmt nicht allein unser Leben; vielmehr können wir uns jederzeit ändern. Dazu ein Gedanke von Adler:

„Nicht die Erlebnisse diktieren unsere Handlungsweisen, sondern die Schlussfolgerungen, die wir aus diesen Erlebnissen ziehen.“

Dies ist eine klare Absage an den Determinismus, demzufolge die Willensfreiheit des Menschen durch innere und äußere Ursachen eingeschränkt sei. Auch klingt darin meines Erachtens bereits etwas an, was später von Viktor Frankl formuliert wurde: die Idee, dass in unserer Haltung zum Leben und seinen Widrigkeiten die letzte, unveräußerliche Freiheit des Menschen liegt.

Mit Adlers Sichtweise lösen wir uns aus der Haltung des kindlichen Selbstbildes, aus der Entmündigung, und entscheiden uns aktiv für Veränderungen in unserem Leben. Im Prinzip reden wir über eine Ode an die Selbstverantwortung und gegen die Opferhaltung! Veränderung und Gestaltung des Existierenden liegt demnach in der Verantwortung jedesIndividuums. Wieder Adler:

„Frag nicht, was das Leben dir gibt, frag, was du gibst.“

In der Individualpsychologie wird der Mensch grundsätzlich positiv gesehen, als unteilbare Einheit und bewusstes Wesen, das ganzheitlich und zielgerichtet reagiert. Die Individualpsychologie betont die Einzigartigkeit des Menschen. Laut Adler ist der Mensch zudem von Geburt an ein soziales Wesen. Das Ziel eines jeden Individuums ist demnach das Streben nach „angeborener“ Überlegenheit und im positiven Sinne nach Selbstverwirklichung. Jeder Mensch hat seinen eigenen Weg, dieses Ziel zu erreichen. Adler bezeichnet dies als den Lebensstil des Individuums.

Die Individualpsychologie ist insbesondere geprägt von Minderwertigkeitsgefühlen, die sich bis hin zu Minderwertigkeitskomplexen auswachsen können. Grundsätzlich, so betont Adler, sind Gefühle der Unzulänglichkeit und der Minderwertigkeit eine universelle Erfahrung. Jeder Mensch, so Adler, empfindet bis zu einem gewissen Grad Minderwertigkeitsgefühle, die sich ursprünglich aus der natürlichen Abhängigkeit des Kindes und seinen im Vergleich zu den Erwachsenen begrenzten Fähigkeiten ergeben. Später können sich diese Gefühle durch eine Reihe von Faktoren verstärken, zum Beispiel durch körperliche Schwächen, soziale Ablehnung oder die Unfähigkeit, mit Gleichaltrigen Schritt zu halten.

Adler argumentierte, dass diese tief verwurzelten Minderwertigkeitsgefühle eine Schlüsselrolle bei der Motivation eines Menschen spielen. Sie sind demnach nicht nur negative Erfahrungen, sondern lösen auch Entwicklung und Wachstum aus. Der Grund: Das Individuum ist bestrebt, diese Gefühle zu überwinden oder zu kompensieren. Dies führt zu einem Prozess der ständigen Selbstverbesserung, der auch als Streben nach Selbstvervollkommnung oder Überlegenheit bezeichnet wird.

Dieses Streben ist somit eine Reaktion auf Minderwertigkeitsgefühle und zielt darauf ab, ein Gefühl der Vollkommenheit oder Sicherheit zu erreichen. Adler betrachtete dieses Streben als einen gesunden und notwendigen Teil der menschlichen Entwicklung, solange es von sozialem Interesse und Gemeinschaftssinn begleitet wird.

Für Adler ist das soziale Interesse – die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten und zum Allgemeinwohl beizutragen – ein entscheidender Faktor, der das Streben nach Überlegenheit in konstruktive Bahnen lenkt. Er glaubte, dass wahre Überlegenheit nicht dadurch erreicht wird, dass man andere übertrifft, sondern dadurch, dass man die Gemeinschaft verbessert und das Gemeinwohl fördert.

In manchen Fällen führen diese Minderwertigkeitsgefühle zu einer Überkompensation. Menschen versuchen, ihre empfundenen Schwächen durch außergewöhnliche Leistungen zu überdecken. Dies kann sich in einem sehr ehrgeizigen und häufig unrealistischen, nicht durchzuhaltenden Lebensstil ausdrücken, der vor allem darauf ausgerichtet ist, die Anerkennung anderer zu erlangen und die eigenen Minderwertigkeitsgefühle zu verbergen.

Übersteigen die Minderwertigkeitsgefühle ein normales, übliches Maß und werden zu einem ausgewachsenen Minderwertigkeitskomplex, führt das häufig zu einem Verhalten, das auf eine Überkompensation der empfundenen Mängel abzielt und das eigene Wohlbefinden sowiedie sozialen Funktionen beeinträchtigt.

Adler betonte die Bedeutung des sozialen Interesses und Gemeinschaftssinns als Gegenmittel zu den negativen Auswirkungen von Minderwertigkeitskomplexen. So sagte er:

„Überkompensation des Minderwertigkeitsgefühls führt zu Ehrgeiz, Herrschsucht, Machtstreben. Oberstes Ziel ist das Gemeinschaftsgefühl. Scheitert die Kompensation, folgt Absinken in die Geisteskrankheit.“

Interessant ist die Sichtweise, dass man sich auch durch eigene Minderwertigkeitsgefühle (z.B. als Opfer) über andere erheben kann. Das beste Argument besteht dabei darin, dass die anderen ja gar keine Empathie für das eigene Opfersein haben können und somit deutlich unterlegener, ja nicht mehr sprachfähig sind. Das erinnert mich derzeit an sehr viele Tendenzen (vor allem in den USA), wo sich immer wieder potenziell Benachteiligte „erheben“. Wie heißt es in einem Zitat (das Adler zugeschrieben wird, aber in so vielen Fassungen kursiert, dass es im Grunde nicht von ihm stimmen kann) so treffend?

„Es ist einfacher, für seine Prinzipien zu kämpfen, als nach ihnen zu leben.“

Adler betonte die Notwendigkeit, als Mensch eine Balance zwischen persönlichen Interessen und gesellschaftlichem Beitrag zu finden. Selbstakzeptanz bedeutet in diesem Zusammenhang, die eigenen Grenzen und Unzulänglichkeiten anzuerkennen und zugleich die eigenen Fähigkeiten zum Wohle der Gemeinschaft einzusetzen. Ein Mensch, der sich selbst akzeptiert, ist besser in der Lage, Mitgefühl und Verständnis für andere zu entwickeln. Dies stärkt die sozialen Bindungen und das soziale Interesse, die Adler als wesentlich für das Funktionieren der Gesellschaft ansah.

Vor allem aber bedeutet Selbstakzeptanz geistige Ruhe. Denn wenn wir, vielleicht auch getrieben von Minderwertigkeitsgefühlen, ständig nur nach Anerkennung durch andere streben, machen wir uns abhängig von diesen anderen. Stützen wir unser Selbstwertgefühl hauptsächlich auf die Meinung oder die Zustimmung anderer, können wir in eine Abhängigkeitsfalle geraten, die unsere Autonomie und unser Selbstvertrauen untergräbt. Diese Abhängigkeit kann dazu führen, dass wir uns ständig anpassen und möglicherweise (bewusst oder unbewusst) unsere eigenen Werte und Überzeugungen opfern, nur um von anderen akzeptiert zu werden.

Dies kann zu einem Teufelskreis führen, in dem das Streben nach Anerkennung immer intensiver wird, aber nie zu wirklicher Zufriedenheit oder zu einem stabilen Selbstwertgefühl führt.

Ein stabiles Selbstwertgefühl ermöglicht mehr Mut und Selbstvertrauen.

Dominiert die Suche nach Anerkennung unser Handeln, neigen wir dazu, unsere wahren Interessen und unser persönliches Wachstumspotenzial zu vernachlässigen. Wir konzentrieren uns dann auf oberflächliche oder kurzfristige Ziele, die uns die schnelle Anerkennung von anderen einbringen, aber nicht unbedingt zu langfristigem Glück oder persönlicher Erfüllung führen.

Eine übermäßige Konzentration auf die Anerkennung durch andere kann zudem zu einem ungesunden Konkurrenzdenken führen. Adler sah Wettbewerb kritisch, wenn er dazu führt, dass Menschen sich isolieren oder sich auf Kosten anderer primär auf ihre eigenen Interessen konzentrieren. Wettbewerb, der das Gemeinschaftsgefühl untergräbt, indem er Neid, Rivalität oder Feindseligkeit fördert, war aus seiner Sicht problematisch.

Andererseits erkannte Adler, dass ein gesunder Wettbewerb dazu beitragen kann, persönliches Wachstum und Entwicklung zu fördern. Er sah im Wettbewerb eine Möglichkeit, das Streben nach Überlegenheit – ein zentrales Element seiner Theorie – zu motivieren. Dieses Streben sollte jedoch nicht als Wunsch, andere zu beherrschen, missverstanden werden, sondern als Wunsch, die eigenen Fähigkeiten zu verbessern und so zu einer produktiven und kooperativen Gesellschaft beizutragen.

Adler sah die Schlüsselaufgabe darin, ein Gleichgewicht zwischen Wettbewerb und Kooperation zu finden. Er plädierte für einen Wettbewerb, der von sozialem Interesse geleitet ist und nicht auf Kosten anderer geht. Ein solcher Wettbewerb kann eine Gemeinschaft stärken, indem er die Leistung und das Engagement aller Mitglieder steigert, ohne die zwischenmenschliche Bindung und Unterstützung zu untergraben.

Dies ist deshalb so zentral, weil Probleme für Adler fast immer Beziehungsprobleme sind. Ihm zufolge entstehen viele psychologische Probleme aus der Art und Weise, wie Menschen mit anderen interagieren und wie sie von anderen wahrgenommen werden wollen. Konflikte, Stress und Angst lassen sich demnach häufig darauf zurückführen, dass Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Anerkennung und Sicherheit in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht erfüllt werden.

Adler argumentierte, dass jedes Individuum in seinem sozialen Umfeld verschiedene Rollen einnimmt – als Familienmitglied, Freund, Mitarbeiter etc. Probleme entstehen demnach häufig, wenn es innerhalb dieser Rollen zu Konflikten kommt oder wenn eine Person Schwierigkeiten hat, ihre Rollen zu erfüllen. Diese Rollenkonflikte sind im Grunde Beziehungsprobleme, da sie aus der Interaktion mit anderen in einem sozialen Umfeld entstehen. Adler glaubte, dass durch die Verbesserung der Beziehungsfähigkeit und das Streben nach harmonischeren sozialen Interaktionen viele persönliche Probleme gelöst werden könnten. Sein Ansatz betonte die Bedeutung von Einfühlungsvermögen, Verständnis und Kooperation als Schlüssel zur Lösung psychologischer und sozialer Konflikte.

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

Mehr erfahren