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Insights

Selbstbewusste Demut

Autor

Georgiy Michailov

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Oder: Warum es so wertvoll ist, eigene Überzeugungen zu überdenken

Als ich mich kürzlich für meinen Blogbeitrag mit dem Unterschied zwischen Fehler- und Irrtumskultur beschäftigte, wurde ich immer wieder auf das jüngste Buch des US-Psychologen Adam Grant angesprochen („Think Again – Die Kraft des flexiblen Denkens“). Und in der Tat hat Grant eine sehr interessante Perspektive auf Irrtümer, indem er dazu aufruft, die eigenen Überzeugungen bewusst in Frage zu stellen und zu überdenken. Dies sei einer der vielversprechendsten Wege, um in einer komplexen und unsicheren Welt so lange wie möglich erfolgreich zu bleiben.

Sie kennen sicher das Gefühl, bei einem Multiple-Choice-Test die angekreuzten Antworten in Frage zu stellen. Soll man bei der ersten Antwort bleiben oder den leisen Zweifeln folgen und sich anders entscheiden?

Eine Meta-Studie von 33 Studien bestätigte den Sinn eines Sinneswandels, denn tendenziell wechseln die Menschen dabei von der falschen zur richtigen Antwort. Die Versuchung, gerne am ersten Gedanken festzuhalten, ist auch als „First Thought Trap“ bekannt und ein klassischer Fall von kognitiver Verzerrung.

Ein Umdenken kann also sehr wertvoll sein. Aber warum ist es so schwer, die eigenen Überzeugungen in Frage zu stellen?

Der Psychologe Philip Tetlock – der an der University of Pennsylvania gleich zwei Professuren hält, eine an der School for Arts and Sciences und eine an der Wharton School für Management – hat unsere menschlichen Denkweisen einmal nach drei „Berufsgruppen“ eingeteilt: PredigerStaatsanwälte und Politiker. Demnach predigen wir, um unsere Werte zu schützen und zu verbreiten. Als Staatsanwälte versuchen wir, Fehler in der Argumentation anderer zu finden. Und in die Rolle des Politikers schlüpfen wir, wenn wir ein Publikum überzeugen wollen.

Adam Grant, der ebenfalls an der Wharton School lehrt und ein Experte für Organisationspsychologie sowie Autor mehrerer Bestseller ist, schlägt eine weitere wichtige Rolle vor: die des Wissenschaftlers.

„Ein Wissenschaftler wird dafür bezahlt, sich ständig der Grenzen seiner Erkenntnis bewusst zu sein.“

Als Wissenschaftler irren wir uns nach oben, hin zu höherer Erkenntnis. In diesem ständigen Modus der Hypothesenüberprüfung verliert man nicht das Gesicht, ganz im Gegenteil – der Irrtum wird zu einem integralen Bestandteil des Lebens.

Einer, der das übersah, ist Mike Lazaridis, der als absolutes Ausnahmetalent galt, als er Research in Motion gründete. Der von ihm entwickelte BlackBerry wurde zu einem Riesenerfolg, doch wie viele sehr erfolgreiche und hochintelligente Menschen stellte Lazaridis die Verdienste der Vergangenheit irgendwann nicht mehr ausreichend in Frage. Er unterschätzte die neue Konkurrenz durch Apples iPhone und Googles Android-System. 2012 traten er und sein Co-CEO zurück, doch der Niedergang des Unternehmens, das damals bis zu 20 Milliarden US-Dollar pro Jahr umsetzte, nahm seinen Lauf.

Adam Grant warnt zu Recht:

„Der Fluch des Wissens ist, dass es unseren Geist vor dem verschließt, was wir nicht wissen.“

Grant weist auch darauf hin, dass eine sehr hohe Intelligenz nicht unbedingt ein Segen ist, sondern sogar ein Fluch sein kann:

„Mentale Stärke garantiert keine geistige Beweglichkeit.“

Je höher unser IQ, desto besser erkennen wir Muster und desto leichter fallen wir auf Stereotype herein. Denn dies führt häufig dazu, dass wir vor allem die Muster herausfiltern, die unsere eigenen Überzeugungen stützen. Diese Verzerrung ist als „Bestätigungsfehler“ bekannt. Gegenwärtig erleben wir ihn in unserer Gesellschaft besonders ausgeprägt. Wir Menschen akzeptieren besonders gerne Argumente, die unsere Sichtweise untermauern. Darüber hinaus glauben wir fest daran, dass wir nicht voreingenommen sind. Vor allem die Schlauen tappen in diese Falle.

Zurück zum Überdenken der eigenen Überzeugungen. Wir haben gelernt, dass Entschlossenheit und Beharrlichkeit sehr wichtig für den Erfolg sind. Und das ist richtig. Aber wir dürfen Entschlossenheit nicht mit Sturheit verwechseln. Wenn sich die Rahmenbedingungen ändern, müssen wir auch unser Handeln hinterfragen.

Die Forschung zeigt, dass erfolgreiche Narrative das Gleichbleibende betonen und Visionen Kontinuität einschließen. Strategien können sich entwickeln, aber unsere Identitäten sollten Bestand haben.

Eine weitere interessante Perspektive eröffnet uns die Frage nach unserem Selbstvertrauen und seinem Ursprung. Schon Charles Darwin soll gesagt haben:

„Unwissenheit erzeugt viel häufiger Selbstvertrauen als Wissen.“

In der Theorie gehen Selbstvertrauen und Kompetenz Hand in Hand. In der Praxis ist das allerdings nicht immer so.

Da gibt es zum einen das Besserwisser-Syndrom, bei dem das Selbstvertrauen größer ist als die Kompetenz. Hierzulande ist es vor allem in drei Bereichen besonders ausgeprägt: Fußball, Epidemiologie und Klimaforschung.

Bis zur Arroganz ist es da häufig nicht mehr weit:

„Arroganz ist Ignoranz plus Überzeugung!“

Übrigens zeigen Studien eindeutig, dass Frauen ihre Führungsqualitäten eher unterschätzen, während Männer sie überschätzen.

Bekannt wurde in diesem Zusammenhang der sogenannte „Dunning-Kruger-Effekt“, der auf eine Publikation der US-Forscher David Dunning und Justin Kruger um die Jahrtausendwende zurückgeht. Sie fanden heraus, dass Menschen, die in einem bestimmten Bereich unerfahren oder inkompetent sind, oft nicht über das nötige Wissen oder die Fähigkeiten verfügen, ihre eigene Inkompetenz überhaupt richtig einzuschätzen – und sich daher tendenziell systematisch überschätzen.

Im Gegensatz dazu neigen Personen mit höherer Kompetenz dazu, ihre Fähigkeiten zu unterschätzen, da sie sich der Schwierigkeit und Komplexität eines Themas bewusster sind und annehmen, dass andere über ähnliche Kenntnisse oder Fähigkeiten verfügen. Dieses Phänomen, bei dem die Kompetenz größer ist als das Selbstvertrauen, wird gerne auch als Hochstapler-Syndrom bezeichnet. Der Begriff geht auf andere Forscher zurück, dennoch wird er häufig auch als Gegenstück des Dunning-Kruger-Effekts verstanden, als Gegenteil des Besserwisser-Syndroms.

Aus einer Reihe von Untersuchungen geht hervor, dass sich mehr als die Hälfte aller Menschen im Laufe ihres Lebens schon einmal als Hochstapler gefühlt hat. Neuere Forschungsergebnisse deuten derweil darauf hin, dass Menschen, die sich als Hochstapler gefühlt haben, beruflich sogar erfolgreicher sein könnten. Adam Grant hat eine Idee, warum:

„Das Hochstapler-Syndrom sorgt dafür, dass ich immer wachsam bleibe und mich weiterentwickle, weil ich nicht glaube, alles zu wissen.“

Ein sehr probates Mittel, um den Besserwisser vom Hochstapler zu unterscheiden, ist Demut. Demut lässt sich in seiner lateinischen Variante „humilitas“ auf den Ausdruck für „Erde“ zurückführen und ist Ausdruck unserer Erdung sowie der Akzeptanz der eigenen Fehlbarkeit. Demut dient gleichsam als Lebensfilter, der unsere Erfahrungen weise verarbeitet. Hochmut ist im Vergleich dazu eher ein Schutzschild, das Lebenserfahrungen abprallen lässt, ohne zu Reflexion oder Veränderungen zu führen.

Sehr interessant wird Demut in Kombination mit Selbstvertrauen. Wenn wir grundsätzlich an unsere Fähigkeiten glauben, uns aber bewusst sind, dass wir noch nicht genug Wissen oder die richtigen Werkzeuge haben, um eine Lösung zu finden, spricht Grant von selbstbewusster Demut. Wenn wir Vertrauen in unsere Fähigkeit haben, neue Dinge zu lernen, sind wir selbstbewusst demütig.

Arroganz wirkt Grant zufolge wie eine Ignoranz-Linse: Sie lässt uns blind werden für unsere Schwächen. Demut dagegen ist eine Reflexions-Linse: Sie lässt uns diese Schwächen besser sehen und erkennen. Selbstbewusste Demut wiederum wirkt wie eine Korrektur-Linse: Sie erlaubt uns, unsere Schwächen zu korrigieren.

Die Identität eines erfolgreichen Wissenschaftlers ist in aller Regel von selbstbewusster Demut geprägt. Er ist leidenschaftlich leidenschaftslos. Er überdenkt seine Überzeugungen und Erkenntnisse auf eine positive Weise, weil er keinen Gesichtsverlust fürchtet, sondern dies als Weg zu besseren Ergebnissen akzeptiert.

Jemand, der kein Wissenschaftler ist, aber ähnlich denkt, ist Amazon-Gründer Jeff Bezos. Einer Anekdote zufolge sagte er bei einer Q&A-Session einmal, dass Menschen, die oft Recht haben, Menschen sind, die ihre Meinung häufig ändern. Bezos beschrieb es als vollkommen nachvollziehbar, ja wünschenswert, heute eine Idee zu haben, die der Idee von gestern widerspricht. Konsistenz im Denken sei für ihn keineswegs eine positive Eigenschaft. Im Gegenteil, die smartesten Leute würden ihre Sicht ständig hinterfragen und als temporär begreifen, sie seien immer offen für neue Standpunkte und neue Informationen.

Wer nun versucht, andere zu überzeugen, sollte im Diskurs einige Dinge beachten:

1. Der erste Schritt zu einer „besseren“ Wahrheit besteht darin, dem Gegenüber zu vermitteln, dass Sie aus den richtigen Motiven heraus handeln. Zeigen Sie, dass Sie ein Wissenschaftler und für bessere Argumente stets offen sind.

2. Betonen Sie zuerst die Gemeinsamkeiten, sprich die Punkte, in denen selbst mit den schärfsten Kritikern bereits Einigkeit besteht.

3. Konzentrieren Sie sich auf wenige, dafür aber bessere Argumente. Zu viele Argumente können die eigene Überzeugungskraft erheblich schwächen.

4. Nutzen Sie das Mittel der motivierenden Gesprächsführung. Dies ist ein sehr wirksames Überzeugungsinstrument, bei dem Sie Menschen durch Fragen und Impulse dazu bringen, ihre eigenen Überzeugungen in Frage zu stellen. Sie können andere nicht von außen motivieren, es sei denn, Sie schaffen es, dass Menschen sich tatsächlich selbst motivieren. Einst in der Suchtarbeit entwickelt, hat sich diese Methode inzwischen auch in anderen Bereichen sehr erfolgreich bewährt.

Motivierende Gesprächsführung beginnt mit einer Haltung der Demut und Neugier. Unsere Aufgabe ist es, die Reflexions-Linse hochzuhalten und die Menschen zu ermächtigen, ihre eigenen Glaubenssätze zu überdenken.

Spannend wird es, wenn wir andere nicht überzeugen können. Dann provozieren wir bei ihnen häufig eine Gegenreaktion, die ihre bisherige Meinung nur noch verstärkt. Das ließ sich beim Thema der COVID-Impfung sehr gut beobachten. Die Impfgegner konnten kaum überzeugt werden. Im Gegenteil, mehr Widerrede erzeugte eine Gegenreaktion, die teils sogar zu einer Radikalisierung führte. In der New York Times beschrieb Adam Grant dies einmal, indem er einen Vergleich zum Immunsystem zog:

„Eine Ansicht zu widerlegen, produziert Antikörper gegen künftige Beeinflussungs­versuche, es führt dazu, dass Menschen sich in ihrer Meinung bestärkt fühlen, und erhöht ihre Bereitschaft, Alternativen zurückzuweisen.“

Vielleicht wäre die motivierende Gesprächsführung auch eine gute Methode, um insgesamt mehr Menschen mit auf den Weg zu nehmen.

Auf jeden Fall wünsche ich mir mehr selbstbewusste Demut – nicht immer weiter eskalierende Commitments zu der einen, einzigen Wahrheit im Leben. :)

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

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