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Insights

Antike Philosophie der Moderne

Autor

Georgiy Michailov

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Oder: Wie sich der Sieg im Äußeren im Inneren erringen lässt

Als ich mich kürzlich mit meinen persönlichen zehn Sätzen für ein gelingendes Leben beschäftigte, schien sich meine Wahrnehmung zu schärfen. Plötzlich sah ich meine Ansichten überall bestätigt. Besonders überrascht war ich von einer unglaublichen Übereinstimmung mit der antiken Philosophie der Stoiker, deren Wurzeln auch schon rund 2300 Jahre zurückreichen. Entweder habe ich deren Erkenntnisse bereits vor Jahren unbewusst in mir verankert, oder sie sind einfach so universell, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ich auf sie stoßen musste.

Das alte Konzept der Stoiker, das auf der Suche nach Gelassenheit, Weisheit und innerer Ruhe beruht und etwa 300 Jahre vor Christus in Athen seinen Anfang nahm, erweist sich als ein bemerkenswertes Hilfsmittel, um den Anforderungen unserer modernen Gesellschaft gerecht zu werden.

Für mich ist eine der zentralen Ideen des Stoizismus – die

Dichotomie zwischen den Dingen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, und denen, die wir beeinflussen können

– äußerst relevant für die Bewältigung moderner Herausforderungen. Indem wir unsere Energie darauf konzentrieren, unsere Handlungen und Gedanken zu lenken, können wir eine tiefe innere Ruhe finden, selbst wenn das äußere Umfeld turbulent ist.

Diese Idee geht zurück auf Epiktet. Als Sklave nach Rom gekommen, lernte er dort die stoische Lehre kennen und begann, sie selbst zu verbreiten. So wurde er zu einem großen Philosophen der römischen Kaiserzeit und einer der einflussreichsten Vertreter der späten Stoa.

Die folgende Ansicht von Epiktet ist für mich besonders relevant:

„Der Weg zum Glück besteht darin, sich um nichts zu sorgen, was sich unserem Einfluss entzieht.“

Eine für mich noch präzisere Definition dieser Idee liefert William B. Irvine, ein Professor der Philosophie, der bis Ende 2021 in Ohio lehrte und sich wiederholt mit den Stoikern befasst hat. In seinem Buch „Anleitung zum guten Leben“ spricht er von der sogenannten „Trichotomie der Kontrolle“. Dabei unterscheidet er

Ø  Dinge, über die wir gar keine Kontrolle haben,

Ø  Dinge, über die wir absolute Kontrolle haben, und

Ø  Dinge, über die wir eine gewisse Kontrolle haben.

Alles, was uns begegnet, lässt sich in eine dieser drei Kategorien einordnen.

Zur ersten Kategorie – den Dingen, über die wir keine Kontrolle haben – gehören zum Beispiel das Wetter, Naturkatastrophen oder auch der Sonnenuntergang.

Die zweite Kategorie umfasst unsere Ziele, Urteile, Werte und möglicherweise auch unsere Reaktionen auf Ereignisse. Die Selbstbeherrschung und Kontrolle unserer Impulse unterliegen jedoch nur zu einem gewissen Teil tatsächlich uns. Nur ein trainierter Geist ist in der Lage, seine Reaktionen vollständig zu kontrollieren.

Die dritte Kategorie mit den Dingen, die zwischen den Extremen liegen und von uns nur (oder immerhin :)) zum Teil beeinflusst werden können, macht den Großteil dessen aus, was wir Leben nennen – unseren Alltag, unsere Entscheidungen und unser Handeln. In diese Kategorie gehört zum Beispiel auch das Ergebnis eines Projekts, eines Spiels oder eines Prozesses. Denn auch wenn unsere Inputs den Output mitbestimmen, ist in einer sehr komplexen Umwelt keineswegs garantiert, dass er auch zustande kommt. Sie können sich exzellent auf einen Boxkampf vorbereiten und trotzdem verlieren, zum Beispiel durch einen Lucky Punch des an sich deutlich unterlegenen Gegners.

An dieser Stelle greife ich sehr gerne die sehr stoische Empfehlung des Psychologen und Coach Jens Corssen aus seinem Selbstentwickler-Konzept auf (hier unser Gespräch für die „SMP LeaderTalks“). Er rät, in solchen Fällen nicht das äußere Spiel zu spielen, sondern das innere. Damit meint er, dass wir uns auf die Dinge verlassen sollen, die wir selbst kontrollieren können. Im oben genannten Beispiel eines Boxkampfes wären dies das intensive Konditionstraining, die exzellente Technik und die richtige taktische Einstellung auf den Gegner. Das sind die Dinge, die wir uns vornehmen und mit maximalem Einsatz abliefern können.

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir damit das äußere Spiel gewinnen, ist am größten, wenn wir unser inneres Spiel am besten spielen.

Vor allem machen wir uns nicht selbst fertig, wenn wir dann doch verloren haben. Solange wir unser inneres Spiel unter den gesetzten Annahmen gespielt haben, wenn wir somit unser Möglichstes getan haben, haben wir uns – selbst wenn sich diese Annahmen als falsch oder unzureichend erweisen – nichts vorzuwerfen. Außer, dass wir uns geirrt haben! Mehr zum Unterschied zwischen Fehler und Irrtum hier in meinem Beitrag.

Ein etwas anderer, aber mindestens genauso spannender Gedanke zum inneren und äußeren Spiel stammt von Tim Gallwey, einem US-Amerikaner, der – inspiriert von seiner Arbeit als Tennislehrer – vor fast 50 Jahren ein Buch über das innere Spiel veröffentlichte und sich einen Namen als Coach für Sportler und Unternehmen machte. Er ist überzeugt, dass Erfolg oder Misserfolg im äußeren Spiel entscheidend davon abhängen, wie weit ich mir des inneren Spiels bewusst bin (das er als Ringen mit eigenen Konzentrationsproblemen, mit Nervosität, Selbstzweifel oder Selbstkritik definiert) und dieses besser meistere.

In „Tennis – Das innere Spiel“ schreibt er:

„Jedes Spiel besteht aus zwei Teilen, einem äußeren und einem inneren. Das äußere Spiel wird gegen einen Gegner ausgetragen (…). (Das innere) Spiel findet im Kopf des Spielers statt und wird (…)  gegen alle Denkgewohnheiten gespielt, die herausragenden Leistungen im Weg stehen.“

Innere „Spiele“ sind besonders wichtig in Berufen, die von den Entscheidungen Dritter abhängen, wie zum Beispiel im Vertrieb. Wer dort erfolgreich sein will, muss nicht nur die inneren Spiele gewinnen, sondern auch lernen, mit Ablehnung umzugehen und dabei innerlich stabil zu bleiben.

Aus der Sicht der Stoiker sollten wir uns diese Trichotomie der Kontrolle im Alltag immer vor Augen halten und als Filter einsetzen. Auf diese Weise ersparen wir uns viele unnötige Sorgen – und lenken unsere Energie auf die Dinge, die tatsächlich in unserem Einflussbereich liegen.

Ein weiterer wesentlicher Bestandteil dieser Philosophie ist für mich die negative Visualisierung, bei der es darum geht, sich große Widrigkeiten oder den Verlust von Besitztümern und Beziehungen schon im Vorhinein vorzustellen. Negative Visualisierung zielt zum einen darauf ab, besser vorbereitet zu sein, sollte der Fall eintreten, zum anderen darauf, die eigene Lebensperspektive zu schärfen und eine tiefere Dankbarkeit für das zu entwickeln, was man hat.

Durch die bewusste Auseinandersetzung mit Verlust und Mangel soll sich eine gewisse Gelassenheit gegenüber den unvermeidlichen Hürden des Lebens entwickeln. Die Praxis der negativen Visualisierung ermöglicht es, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse in einem realistischen Kontext zu betrachten und dadurch eine tiefere Zufriedenheit mit dem Hier und Jetzt zu finden. Epiktet sagte:

„Weise ist der Mensch, der nicht den Dingen nachtrauert, die er nicht besitzt, sondern sich der Dinge freut, die er hat.“

Wichtig ist: Das Konzept unterscheidet sich von einer pessimistischen Sichtweise, denn es geht nicht darum, sich auf das Negative zu konzentrieren, sondern darum, eine gesunde Perspektive auf das Positive zu entwickeln. Wer sich vorstellt, wie es wäre, ohne Dinge zu leben, die er (oder sie) für selbstverständlich hält, lernt, diese Dinge mehr zu schätzen und sich weniger von materiellem Besitz oder äußeren Umständen abhängig zu machen.

Auch kann dies die klassische hedonistische Adaptation (bekannt als hedonistische Tretmühle, mehr dazu hier) und unser Streben nach Dopamin aushebeln. Fangen wir an, das, was wir haben, mehr zu schätzen, lassen wir uns nicht mehr vom Dopamin zum nächsten coolen „Ding“ treiben. Die innere Ruhe stellt sich viel leichter ein. Das ermutigt uns, nicht in einem Zustand permanenter Unzufriedenheit zu verharren, sondern das Gute im Leben bewusster wahrzunehmen – und widerstandsfähiger gegenüber den Herausforderungen zu werden, die auf unserem Weg auftauchen.

Der vielleicht wichtigste Aspekt dieser Philosophie, der mir sehr am Herzen liegt, ist die Selbstdisziplin! Für die Stoiker war Selbstdisziplin eine der zentralen Säulen, ja die Grundlage für ein erfülltes, tugendhaftes und glückliches Leben. Auch der französische Philosoph René Descartes betonte später:

„Es ist nicht genug, einen guten Geist zu haben; die Hauptsache ist, ihn richtig anzuwenden.”

Selbstdisziplin ermöglicht es uns, die Kontrolle über unsere eigenen Reaktionen zu übernehmen und somit unseren inneren Zustand, unsere Emotionen und unseren Umgang mit äußeren Ereignissen zu kontrollieren. Selbstdisziplin ermöglicht es uns, bewusst zu entscheiden, wie wir auf äußere Trigger reagieren. So können wir unabhängig von äußeren Umständen innere Ruhe und Gelassenheit bewahren.

Sprechen wir von stoischen Reaktionen, sprechen wir nicht von Gleichgültigkeit, sondern von Gleichmut!

Das ist ein großer Unterschied. Dies zu lernen, war für mich sehr wertvoll.

Nur durch Selbstdisziplin können wir zur Tugend gelangen, etwas, das den Stoikern als das höchste Gut galt. Selbstdisziplin war der Weg zu den vier wichtigsten Tugenden: Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Durch das bewusste Treffen moralischer Entscheidungen und das Bemühen um tugendhaftes Handeln – so der Gedanke – lässt sich ein gutes und sinnerfülltes Leben führen.

In unserer von Unsicherheit und Turbulenzen geprägten Zeit können wir diese intelligenten Werkzeuge nutzen, um mehr Klarheit zu gewinnen und einen für uns sinnvollen Lebensweg zu gestalten. Die wahre Stärke dieser Philosophie liegt in der Kontrolle unserer Einstellungen und der Kultivierung einer tief verwurzelten Gelassenheit. Dies erinnert mich sehr an den österreichischen Psychologen und KZ-Überlebenden Viktor E. Frankl mit seiner Botschaft:

„Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.“

Integrieren wir diese Prinzipien in unseren modernen Lebensstil, können wir klügere, ausgeglichenere und erfülltere Menschen werden. Denn wie wusste schon einer der größten römischen Kaiser, Marcus Aurelius:

„Das Glück deines Lebens hängt von der Beschaffenheit deiner Gedanken ab.“

In stoischer Verbundenheit freue ich mich auf unsere gemeinsame Diskussion! :)

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

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