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Insights

Emotionale Selbstführung für ein gelingendes Leben

Autor

Georgiy Michailov

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Oder: Warum fünf Grundbedürfnisse entscheidend sind!

Die bekannteste Pyramide der Welt ist – nach den ägyptischen Pyramiden – wohl die Maslowsche Bedürfnispyramide :) Bis heute wird sie gern herangezogen, um menschliches Verhalten und seine Motive sehr anschaulich zu erklären. Ihre Einfachheit und Prägnanz machen sie sehr populär. Zugleich jedoch ist diese Bedürfnishierarchie, die auf Arbeiten des US-Psychologen Abraham Harold Maslow in der Mitte des 20. Jahrhunderts zurückgeht, relativ umstritten.

Maslowsche Bedürfnispyramide

Sie ist weder ausreichend empirisch belegt noch universell in allen Kulturkreisen anwendbar. Zudem ist sie zumindest in ihrer populären Darstellung als Pyramide so aufgebaut, dass eine Stufe erst erreicht werden kann, wenn die vorhergehende vollständig befriedigt ist. In der Realität können Menschen jedoch Bedürfnisse auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig erleben oder zwischen den Ebenen hin und her wechseln. Dieser letzte Kritikpunkt betrifft allerdings eher die Rezeption der Bedürfnishierarchie als deren Erfinder, denn Maslow selbst hat nie eine Darstellung als Pyramide gewählt, geschweige denn eine Entwicklung postuliert, die sich nur „Stufe für Stufe“ vollzieht. Vielmehr ging er von einer graduellen Entstehung von Bedürfnissen aus.

Dennoch, einen alternativen und für mich sehr viel schlüssigeren Ansatz hat Seymour Epstein entwickelt, der mehr als 40 Jahre Psychologieprofessor an der University of Massachusetts in Amherst war und 2016 starb. Er ist vor allem bekannt für seine Forschung zu einer Theorie der Persönlichkeit, bei der er versuchte, die Ebene der (unbewussten) Erfahrungen in der Welt und die Ebene des (bewussten) kognitiven Umgangs mit ihr zu einem Modell zu vereinen.

Grundlage seiner Theorie war das Verständnis, wie der Mensch Informationen verarbeitet. Dies erfolgt nach Epstein durch drei interagierende Systeme:

  1. Das Erstverarbeitungssystem, das das Unbewusste beinhaltet und vor allem über Symbole funktioniert.
  2. Das Vernunftsystem orientiert sich an kulturellen Regeln und Normen. Es arbeitet linear und analytisch.
  3. Das Erfahrungssystem fußt auf Emotionen und einem assoziativen Zugang.

Unser Verhalten ist eine Funktion des Zusammenspiels dieser drei Systeme. Durch das Erfahrungssystem wird es ständig irritiert und danach bewertet.

Aus dem Zusammenspiel der drei Systeme bilden sich hierarchisch organisierte Schemata bzw. Schema-Netzwerke, die aufgrund der beschriebenen Erfahrungen ständig angepasst werden.

„There are two kinds of schemata in an implicit theory of reality: descriptive schemata and motivational schemata. Descriptive schemata refer to beliefs about what the self and the world are like. […] Motivational schemata refer to beliefs about means-ends-relations. […] Schemata of both kinds represent, to a considerable extent, generalizations from emotionally past experiences.“

Vor diesem Hintergrund hat Epstein in seinen Untersuchungen vier Bedürfnisse herausgearbeitet, die er aufgrund ihres bestimmenden Charakters als psychische Grundbedürfnisse bezeichnet.

Ein gesunder Mensch richtet sein Handeln danach aus, Lust zu erleben und Unlust zu vermeiden, Orientierung respektive Kontrolle zu erfahren und Orientierungslosigkeit respektive Kontrollverlust zu verhindern, sichere Beziehungen zu erlangen und dysfunktionale Beziehungen zu vermeiden sowie den eigenen Selbstwert zu steigern, statt ihn zu verletzen. Zusammengefasst lauten die vier psychischen Grundbedürfnisse:

  1. das Bedürfnis nach Lustgewinn
  2. das Bedürfnis nach Orientierung/Kontrolle
  3. das Bedürfnis nach Beziehung/Bindung
  4. das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung

Diese Bedürfnisse bestimmen wesentlich die Wahl unserer Ziele, ebenso die Art und Weise der Erreichung anderer Ziele und damit unser Verhalten.

Epsteins Theorie betont, dass die Grundbedürfnisse nicht hierarchisch geordnet sind, sondern gleichwertig nebeneinanderstehen und in verschiedenen Situationen unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Die Balance zwischen den Systemen variiert je nach individuellen Präferenzen und Kontext.

In der Vorbereitung auf ein Gespräch mit Dr. Denis Mourlane, dem Psychologen, Coach, Berater und Bestsellerautor, habe ich seinen Grundbedürfnisansatz „Die 5needs©“ aufgegriffen, der auf Epstein und den Arbeiten des deutschen Professors und Psychotherapeuten Klaus Grawe aufbaut. Mourlanes Buch „Resilienz – Die unentdeckte Fähigkeit der wirklich Erfolgreichen“ habe ich bereits hier vorgestellt.

Denis unterscheidet fünf Grundbedürfnisse:

  1. Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung
  2. Das Bedürfnis nach Bindung
  3. Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz
  4. Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
  5. Das Bedürfnis nach Kohärenz bzw. Konsistenz

Das Verständnis dieser fünf Bedürfnisse ist essenziell für die erfolgreiche emotionale Selbstführung jedes Einzelnen. In seinem 2021 neu aufgelegten Buch „Emotional Leading – Unsere fünf Grundbedürfnisse oder wie wir die Kraft positiver Emotionen entfesseln“ betont Denis aber auch, dass ihre Wurzeln noch weit tiefer reichen:

„Die Evolution hat uns diese außergewöhnlich fein aufeinander abgestimmten fünf Bedürfnisse nicht deshalb ‚geschenkt‘, damit wir möglichst viele schöne Emotionen empfinden. Sie hat sie uns mitgegeben, weil wir mit ihnen den Fortbestand unserer Spezies sichern.“

Im Folgenden will ich auf diese fünf Bedürfnisse etwas näher eingehen.

1.) Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung

Dies ist wohl das intuitiv einfachste Bedürfnis, das wir haben: Wir streben nach Dingen, die uns Lust bereiten, und vermeiden alles, was uns Unlust bereitet.

Die vielleicht schönste Form der Lustgewinnung ist der von Mihaly Csikszentmihalyi beschriebene Zustand des „Flow“, in dem wir bei bestimmten Tätigkeiten einfach die Zeit vergessen, uns darin vertiefen, ja verlieren und uns nicht mehr davon lösen können. Diesen Zustand erreichen wir übrigens vor allem dann, wenn wir unsere persönlichen Stärken kennen und diese adäquat einsetzen können.

Gerade bei diesem Bedürfnis ist es wichtig, die Balance zu halten. So sagt Mourlane:

„Wer das Empfinden von Lust und das Vermeiden von Unlustgefühlen zur Lebensmaxime erhebt, ist häufig anfällig für Drogen und versucht, Frustration um jeden Preis zu vermeiden. Das sorgt zwar für ein schönes Gefühl, ist kurz-, vielleicht auch mittelfristig angenehm, führt aber langfristig in eine Sackgasse.“

2.) Das Bedürfnis nach Bindung

Wir Menschen sind soziale Wesen, insofern zählt auch dieses Bedürfnis zu den grundlegenden Bedürfnissen. Ohne Bindung tun wir uns schwer. Wieder Mourlane:

„Studien zeigen, dass bei der Mehrzahl der Erwachsenen mit einer psychischen Diagnose in der Kindheit Probleme im Bindungsverhalten vorlagen, die weiter bestehen.“

Der Grundstein für ein glückliches Leben wird in der Kindheit gelegt. Wer als Säugling und Kleinkind verlässliche und einfühlsame Bezugspersonen hatte, wird als Erwachsener eher Vertrauen in andere Menschen haben und tragfähige Bindungen eingehen können. Man verfügt über ein sicheres Bindungsverhalten. Das ist, wie gesagt, die beste Voraussetzung für ein glückliches Leben.

Die Ergebnisse der wohl längsten Studie der Menschheitsgeschichte, der Harvard Study of Adult Development, zeigen eindrucksvoll den Wert guter Beziehungen. Zumindest ist dies zentrale Botschaft von Professor Robert Waldinger, dem aktuellen Leiter der Studie, die vor 85 Jahren ihren Anfang nahm, 724 Männer aus zwei verschiedenen Gruppen über ihr ganzes Leben hinweg begleitete und gerade dabei ist, ihren Fokus auf die Kinder der ersten Teilnehmergeneration zu richten.

Bisherige Ergebnisse zeigen, dass Menschen, die in ihren Beziehungen zu anderen Menschen emotionale Unterstützung erfuhren und selbst unterstützende Beziehungen pflegten, tendenziell glücklicher und gesünder waren.

Nicht der soziale Status, das Einkommen oder der berufliche Erfolg beeinflussen demnach das persönliche Glück, sondern die Qualität der zwischenmenschlichen Bindungen.

Eine zweite, ähnlich angelegte Studie, die ich für eine der wichtigsten unserer Zeit halte, wurde auf der hawaiianischen Insel Kauai über einen Zeitraum von 40 Jahren durchgeführt. Initiatorin war die amerikanische Professorin Emmy Werner (die übrigens in Eltville am Rhein geboren wurde, nach dem Krieg in Mainz Psychologie studierte und dann in die USA ging).

Werner verfolgte, um mehr über die Faktoren menschlicher Entwicklung zu erfahren, das Leben aller 698 Kinder, die im Lauf des Jahres 1955 auf Kauai geboren wurden. In ihrer Studie untersuchte sie die langfristigen Auswirkungen, die Risikofaktoren wie zum Beispiel ungünstige Lebensumstände in der frühen Kindheit auf die Entwicklung haben. Sie erhob dafür Daten der Kinder (respektive Erwachsenen) im Alter von 0, 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren. Ein Drittel der Teilnehmer lebte unter Hochrisikobedingungen wie chronischer Armut, psychischen Erkrankungen der Eltern oder familiären Konflikten.

Was sich dabei zeigte: Selbst bei diesen „Risikokindern“ reichte eine einzige Bezugsperson (die noch nicht einmal aus der eigenen Familie stammen musste) dafür aus, dass Jungen und Mädchen sich gut entwickelten und Resilienz gegenüber den Widrigkeiten des Lebens an den Tag legten.

3.) Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz

Auch hier sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse eindeutig. Unser Grundbedürfnis ist es, uns kompetent und wertvoll zu fühlen. Gut über sich selbst zu denken und gut über sich selbst denken zu lassen, ist fast allen Menschen eine Herzensangelegenheit.

Ein gesundes Selbstwertgefühl ist vor allem unter hoher Unsicherheit sehr wichtig. Wie treffend ist doch die Aussage des Amerikaners Maxwell Maltz:

„Ein geringes Selbstwertgefühl ist, als führe man mit angezogener Handbremse durchs Leben.“

Wichtig dabei ist: Der bestärkende Einfluss darf nicht von außen kommen.

Positive Selbst- und Fremdaffirmationen allein reichen nicht aus, um nachhaltiges Selbstvertrauen aufzubauen.

Stattdessen muss die Bestärkung aus der eigenen Entwicklung kommen. Deshalb ist es gut, wenn wir ständig in uns selbst investieren. Denn das ist der Bereich, den wir am besten beeinflussen können. So kommen wir ins Handeln und laufen gar nicht erst Gefahr, in die Opferrolle zu verfallen, die meist ja schon eine Ecke weiter lauert. Auf diese Weise gelingt es uns zu wachsen und die Komfortzone zu verlassen (auch wenn dies mit starken Wachstumsschmerzen verbunden sein kann).

Deshalb verfolge ich bei der Steigerung meines Selbstwertgefühls vor allem meine innere Verpflichtung mir selbst gegenüber und stütze mich dabei auf das Konzept des 2014 gestorbenen Psychologen, Psychotherapeuten und Bestsellerautors Nathaniel Branden, einem der Pioniere der Forschung zum Selbstwertgefühl:

„Self-esteem is the reputation we acquire with ourselves.”

Ziel ist es, die eigene innere Reputation aufzubauen, um sich selbst vertrauen zu können.

Auf diese Weise können wir unser „Selbstvertrauen“ wie in einem mentalen Fitnessstudio trainieren. Die Trainingseinheiten bestehen darin, dass wir uns etwas vornehmen und es dann auch einhalten.

Der Managementexperte Dr. Reinhard K. Sprenger hat einmal geschrieben:

„Der Einzelne muss, um von anderen anerkannt zu werden, sich selbst diesen klaren Anspruch geben. Dieser Anspruch manifestiert sich im Handeln.“

Sprenger meinte damit das innere Bekenntnis zu Vereinbarungen mit anderen, aber seine Worte lassen sich ohne weiteres auch auf Vereinbarungen mit sich selbst übertragen. Wir selbst sind unser Maßstab. Wir sind auch die einzigen, mit denen wir uns vergleichen dürfen, wenn wir uns nicht ins Unglück stürzen wollen. Mehr dazu hier.

4.) Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle

Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle gehört ebenso wie das Bedürfnis nach Bindung zu den ursprünglichsten Bedürfnissen überhaupt. Denn in den ersten Jahren unseres Lebens sind wir ohne die Zuwendung anderer nicht überlebensfähig.

Bereits in den ersten Lebensmonaten macht ein Säugling erste Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, aus denen sich mit der Zeit die für die Resilienz so wichtige Erwartung der Selbstwirksamkeit entwickelt. Es wird verstanden, dass durch eigenes Handeln, meist durch sehr lautes Schreien, eine als negativ empfundene Situation in eine neutrale bis positive verwandelt werden kann. Entsprechende neuronale Verbindungen werden hergestellt. Bleibt jedoch eine verständliche Reaktion der Eltern aus, wird das Bedürfnis des Säuglings nach Kontrolle über eine bestimmte Situation beeinträchtigt. Ebenso sein Bedürfnis nach Orientierung, nach Vorhersehbarkeit dessen, was passieren wird.

Eine intakte Selbstwirksamkeitserwartung ist unabdingbar, um in der heutigen komplexen Welt mit all den vielfältigen Krisen aus eigener Kraft zurechtzukommen. Ist diese Selbstwirksamkeit zu gering ausgeprägt, steigt das Stressempfinden massiv an.

In der Stressforschung wird dieses Phänomen als Erst- und Zweitbewertung einer Situation bezeichnet. In der ersten Einschätzung wird eine Situation der Kontroll- und Orientierungslosigkeit zunächst als Stress empfunden. In der zweiten Bewertung wird sie jedoch von einer gut organisierten Person mit Blick auf die eigenen Ressourcen als überwindbar eingestuft. Das Stressempfinden nimmt ab.

Der US-Psychologe, Martin Seligman, der vor allem durch seine Beschreibung des Phänomens der „erlernten Hilflosigkeit“ bekannt wurde, sich vor allem aber mit der Überwindung von Hilflosigkeit und Depression respektive mit positiver Psychologie, Optimismus und innerer Stärke befasst hat, schrieb einmal, dass der Umgang mit Unbill im Leben keineswegs angeboren sei, sondern erlernt werden könne:

„After seven years of experiments, it was clear to us that the remarkable attribute of resilience in the face of defeat need not remain a mystery. It was not an inborn trait; it could be acquired.”

5.) Das Bedürfnis nach Kohärenz bzw. Konsistenz

Auf der Suche nach Stabilität und Gleichgewicht streben wir oft nach Kohärenz, sei es auf physischer oder psychischer Ebene. Ein interessanter Vergleich: Wenn jemand zu schnell aufsteht und sein Blutdruck zu niedrig ist, kann ein vorübergehender Schwindel das Gleichgewicht stören. Ähnlich erleben wir ein psychisches Ungleichgewicht, wenn unsere Bedürfnisse nicht erfüllt oder angegriffen werden.

Ein drastisches Beispiel ist die plötzliche fristlose Kündigung, die das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle beeinträchtigt. In solchen Momenten neigen die meisten Menschen dazu, sofort Maßnahmen zu ergreifen, sei es rechtliche Beratung, Überprüfung des Marktwertes oder auch bewusstes Nichtstun.

Interessanterweise können wir auch selbst ein Ungleichgewicht erzeugen, indem wir uns ausschließlich auf die Befriedigung eines psychologischen Bedürfnisses konzentrieren. Ein zwanghaftes Streben nach Anerkennung kann beispielsweise auf Kosten von sozialen Kontakten und persönlichem Vergnügen gehen.

Im Gegensatz zu manchen Auffassungen sehe ich das Bedürfnis nach Kohärenz nicht nur als eigenständiges Metabedürfnis, sondern auch auf der Ebene anderer Bedürfnisse. Ein Unternehmen, das trotz Rekordgewinnen Entlassungen ankündigt, kann unser Kohärenzbedürfnis direkt herausfordern.

In der heutigen dynamischen Arbeitswelt ist es entscheidend, sich seiner eigenen Bedürfnisse bewusst zu sein und proaktiv auf Ungleichgewichte zu reagieren. Ob durch rechtliche Schritte, strategische Überlegungen oder bewusste Selbstreflexion - das Streben nach Kohärenz spielt eine zentrale Rolle in unserem Streben nach persönlichem und beruflichem Wohlbefinden.

Welches Bedürfnis spielt in Ihrem Leben eine besondere Rolle?

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

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