Logo

Insights

Die Lebenskraft der Hoffnung

Autor

Georgiy Michailov

Teilen

Oder: Wie sich auch die dunkelsten Zeiten überleben lassen

Als ich Viktor E. Frankls Buch über sein Überleben in mehreren Konzentrationslagern gelesen habe, „Man’s Search for Meaning“ (das auf Deutsch unter dem Titel „… trotzdem Ja zum Leben sagen“ erschienen ist), hat mich vieles darin berührt. Unter anderem seine Botschaft, dass Menschen, die in jenen düsteren Tagen die Hoffnung verloren, sehr schnell dem Tod geweiht waren.

„The prisoner who had lost faith in the future – his future – was doomed. With his loss of belief in the future, he also lost his spiritual hold. He let himself decline and become subject to mental and physical decay.”

Auch die moderne Forschung zeigt, dass zum Beispiel nach dem Tod des Kindes die Sterbewahrscheinlichkeit der Mutter deutlich ansteigt. Gleiches gilt für eine Krebsdiagnose. Und je schwerer die Diagnose, desto höher die Wahrscheinlichkeit, einen Herzinfarkt zu erleiden.

Je düsterer die Zukunftsaussichten, desto höher das Herzinfarktrisiko.

Viele dieser Studien gehen zurück auf relativ grausame Experimente von Curt Richter, einem Professor für Psychologie, der über Jahrzehnte an der Johns Hopkins University in Baltimore forschte und sich auch viel mit biologischen Prozessen befasste, unter anderem der „biologischen Uhr“. Er experimentierte in den 1950er Jahren mit zahmen und wilden Ratten, um zu schauen, wie sie auf Stress reagierten. Zu diesem Zweck nahm er einmal ein Dutzend zahme Ratten, setzte sie in mit Wasser gefüllte Glasbehälter, aus denen sie nicht entfliehen konnten, und beobachtete, wie sie ertranken. Die Grundidee war, die Zeit zu messen, die sie schwammen, bevor sie aufgaben und untergingen.

Die erste zahme Ratte schwamm aufgeregt an der Oberfläche, dann tauchte sie ab und schwamm am Glas entlang. Nach insgesamt zwei Minuten war sie tot. Zwei weitere der zahmen Ratten starben auf ähnliche Weise. Interessanterweise gaben die restlichen neun zahmen Ratten aber nicht so schnell auf. Stattdessen schwammen sie 40 bis 60 Stunden lang, bevor sie schließlich aufgaben und ebenfalls starben.

Nun kamen die wilden Ratten, die für ihre Schwimmfähigkeit bekannt sind. Die Ratten, die Richter verwendete, waren erst kurz zuvor gefangen worden, sie waren wild und aggressiv. Eine nach der anderen ließ er sie ins Wasser fallen. Und eine nach der anderen überraschte ihn: Alle 34 starben binnen weniger Minuten.

„Was tötet diese Ratten?“, fragte er sich. „Warum sterben alle wilden und aggressiven Ratten sofort, wenn man sie (…) ins Wasser wirft, und von den zahmen Ratten, die genauso behandelt wurden, nur ein kleiner Teil?“

Die Antwort in einem Wort: Hoffnung.

„Die Situation dieser Ratten ist kaum eine, die Kampf oder Flucht erfordert – es ist eher eine Situation der Hoffnungslosigkeit“, schrieb er über jene Tiere, die rasch starben. „Die Ratten befinden sich in einer Situation, gegen die sie keine Verteidigungsmöglichkeiten haben ... sie scheinen buchstäblich ‚aufzugeben‘.“

Richter setzte das Experiment fort: Er nahm andere, ähnliche Ratten und setzte auch sie in einen Glasbehälter voll Wasser. Kurz bevor sie dem Tod nahe waren, nahm er sie heraus, hielt sie eine Weile fest, bis sie sich erholt hatten, und setzte sie dann wieder ins Wasser.

Dieser kleine Zwischenfall machte einen großen Unterschied. Wilde Ratten, die eine kurze Erleichterung erfahren hatten, schwammen viel länger und hielten auf einmal ähnlich lang (oder länger) durch wie die zahmen Ratten zu Beginn. Dieses Mal versuchten die wilden Ratten zu entfliehen und zeigten keine Anzeichen des Aufgebens.

„Die Ratten lernen schnell, dass die Situation nicht hoffnungslos ist“, schrieb Richter.

Als die Ratten merkten, dass sie nicht verloren waren, dass es vielleicht Hilfe gab, kurz: als sie einen Grund hatten weiterzumachen, machten sie auch weiter. Sie gaben nicht auf und gingen nicht unter. „Wird die Hoffnungslosigkeit beseitigt, sterben die Ratten nicht“, schrieb Richter. Bemerkenswert schien ihm auch, wie schnell die Ratten sich erholten.

Es ist offensichtlich, dass es zwischen Menschen und Ratten viele Unterschiede gibt. Und doch: Wir alle brauchen einen Grund, um weiterzumachen, ähnlich wie die Ratten in Curt Richters Experiment. Hoffnung gibt uns die Kraft und den Mut, uns den Herausforderungen des Lebens zu stellen und auf dem Wege nicht aufzugeben. Oder wie es der Buchautor Roy T. Bennett formuliert:

„Never lose hope. Storms make people stronger and never last forever.”

Der amerikanische Psychologe Charles „Rick“ Snyder, der als Professor an der University of Kansas arbeitete und sich intensiv mit Hoffnung befasste, unterschied 2002 in einer sechs Jahre umfassenden Studie mit 213 Studenten sogar zwischen Menschen vom Typ „high hope“ und solchen vom Typ „low hope“.

„High hope students find multiple pathways to reach their goals and willingly try new approaches to do so. Low hope students, on the other hand, stick with one approach and do not try other avenues.”

Für mich ist es sehr wichtig, den eigenen Sinn für das „Leiden“ im eigenen Leben zu kennen oder zu finden. In diesem Zusammenhang zitiere ich sehr gerne einen Satz, über den ich vor 14 Tagen, im letzten Teil meiner Reflexion über zehn Leitsätze meines Lebens, schon ausführlicher geschrieben habe:

„Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“

Das „Warum“ symbolisiert in diesem Kontext genau den Sinn des Lebens, auch die Kraft der Hoffnung. Den Grund, für den es sich lohnt zu kämpfen, den Glauben, dass die Zukunft besser wird. Wer ein solches „Warum“ hat, dem fällt es leichter, „außere Schwierigkeiten und innere Nöte“ zu überwinden (wie Viktor E. Frankl schrieb).

Die Überwindung aller Beschwerlichkeiten des Lebens könnte auch als Sinn des Lebens an sich angesehen werden. Darin liegt allerdings eine Gefahr. Hier greife ich erneut auf den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche zurück, der 1886 in „Jenseits von Gut und Böse“ schrieb:

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er dabei nicht zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“

Wir müssen sehr aufpassen, dass wir nicht von diesen Schwierigkeiten verschlungen werden. Deshalb gefällt mir die Ergänzung von Jordan B. Peterson, dem berühmten kanadischen Psychologen und Bestsellerautor. Er betont, dass wir diese Bürde des Lebens immer weiter tragen müssen.

„If you gaze into the abyss long enough, you see the light, not the darkness.“

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

Mehr erfahren