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Meine zehn Leitsätze für ein gelingendes Leben (4/4)

Autor

Georgiy Michailov

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Oder: Was ich in den vergangenen 20 Jahren (auch) gelernt habe

In den ersten drei Folgen meiner Reflexion über die zehn wichtigsten Leitsätze meines Lebens ging es, grob gesagt, darum, Verantwortung für unser Leben, unsere Gesundheit und unsere persönliche Entwicklung zu übernehmen, sowie um unsere innere Haltung und die Bedeutung menschlicher Bindungen. Nun, im finalen Teil dieser kleinen Reihe, möchte ich den Blick insbesondere auf unser Handeln richten, das im besten Falle konsequent und konsistent zugleich sein sollte.

Hier im Überblick die drei Leitsätze, die ich zum Abschluss behandeln werde:

8. Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.

9. Inkonsequenz rächt sich – und das ziemlich schnell.

10. Konsistenz schlägt auf Dauer Intensität – und das deutlich.

Beginnen wir mit etwas Einfachem: dem Sinn des Lebens.

8. Leitzsatz: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“

Das Leben hält immer wieder unerwartete Wendungen und Schicksalsschläge bereit, von denen viele sehr unangenehm oder gar stark belastend sind. Gerade in der heutigen Zeit mit ihren turbulenten, teils neuartigen Entwicklungen wie Pandemien, Kriegen oder auch Rezessionen stellen sich uns ungeahnte Hindernisse in den Weg. Wie schaffen wir es in diesem Umfeld, die Hoffnung nicht zu verlieren und voller Zuversicht weiter voranzuschreiten? Eine Lösung, die mir sehr am Herzen liegt, hat einst der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche formuliert, in seinem Werk „Götzen-Dämmerung“, fertiggestellt 1888:

„Hat man sein Warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Wie? (…)“

In der leicht verkürzten, aber den Sinn erhaltenden Fassung, die ich zu meinen zehn Leitsätzen zähle, wurde diese Formulierung insbesondere von Viktor E. Frankl wiederholt zitiert, dem 1997 verstorbenen österreichischen Neurologen und Psychiater, der im Dritten Reich mehrere Konzentrationslager überlebt hatte.

Das „Warum“ steht dabei für den Sinn des Lebens. Für den Grund, für den es sich zu kämpfen lohnt, für das Argument, warum Aufgeben nicht sinnvoll, ja nicht notwendig ist.

Nun ist der Versuch, den Sinn des Lebens zu finden, natürlich eine Herausforderung, die Menschen seit Jahrtausenden beschäftigt, und ein Thema aller großen (und kleinen) Lebensphilosophen! Ich räume freimütig ein, dass es auch für mich ganz persönlich eine sehr anspruchsvolle Aufgabe ist, diese Frage zu beantworten. Ich finde aber viel Trost in Nietzsches Gedanken sowie in einer verwandten Formulierung Frankls, der – wie ich denke – nach allem, was er erlebt hatte, wirklich wusste, worüber er schrieb:

„Wer um einen Sinn seines Lebens weiß, dem verhilft dieses Bewusstsein mehr als alles andere dazu, äußere Schwierigkeiten und innere Beschwerden zu überwinden.“

Am Ende ist der Sinn des Lebens zutiefst subjektiv. Ein allgemeingültiges Element dieses Sinns könnte jedoch darin liegen, die Verantwortung für sich selbst zu tragen und vor allem die Rolle des Opfers hinter sich zu lassen. Diese ist Gift für den eigenen Selbstwert.

Jeder wird seinen eigenen Lebenssinn finden oder bestimmen. Ich selbst fühle mich im Einklang mit Ausführungen des kanadischen Psychologen und Bestsellerautors Jordan Peterson:

„Meaning is the bearing of sacrificial burden and that actually works to enrich and ennoble your life in ways that make the tragic element of it tolerable and to keep you from bitterness.“

Schon Sigmund Freud soll einmal gesagt haben:

„Leiden ist leichter als Handeln.“

Peterson dreht diese Aussage gewissermaßen um, er bezeichnet das Handeln als Antidot für das Leiden und somit auch als einen „vernünftigen“ Sinn des Lebens. Ich halte das für sehr einleuchtend – den Gedanken, dass wir uns bei allen Beschwernissen des Lebens stets die Frage stellen sollten:

Was ist mein nächster Schritt?

Was nehme ich mir jetzt vor?

Sehr hilfreich, auch befreiend erscheinen mir Gedanken eines anderen großen Lebensphilosophen, des legendären Grenzgängers Reinhold Messner. Für ihn gibt es keinen allgemeinen, für alle geltenden Sinn, der nur „entdeckt“ zu werden braucht. Er ist davon überzeugt, dass der Mensch selbst Sinn stiftet und auch etwas wie dem Extrembergsteigen, das gesellschaftlich völlig nutzlos erscheinen mag, einen Sinn geben kann. So war für ihn sein Tun als Grenzgänger in Bergen oder Wüsten sinnlos und sinnvoll zugleich. Gerade das Nutzlose zwinge zur Sinnfindung.

„Wir haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, Sinn zu geben. Sinn braucht nicht gesucht zu werden, denn er ist nicht zu finden. Er kommt auch nicht von allein. Er wird gegeben, gestiftet. Von uns.“

Dieser Sinn sicherte Messner sein Überleben am Limit. In der Überwindung der eigenen Grenzen und dann auch in der Natur Sinn zu finden, darin liegt etwas Kraftvolles.

Diese Kunst der Selbstermächtigung ist besonders wichtig, wenn wir unter dem massiven Druck der heutigen Welt stehen. Unsere Haltung bestimmt unser Erleben und unseren Umgang mit Widrigkeiten. Vor allem dann, wenn es weh tut und man aufgeben möchte. Dann zu wissen, wofür man leidet und aus dem eigenen Leiden vielleicht sogar Leidenschaft zu ziehen, kann eine große Hilfe sein. Und wenn wir mit der Zeit erfahren, dass wir jeder Widrigkeit trotzen können, dann kommt – wie so häufig :) – erneut Nietzsche ins Spiel (wieder aus der „Götzen-Dämmerung“):

„Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“

In dieser Weltsicht, die sich heute im Konzept der „Antifragilität“ wiederfindet, geht es nicht nur darum, resilient zu sein, sprich den Widrigkeiten der Welt zu trotzen und stets zu alter Stärke zurückzukehren, sondern im Idealfall sogar daran zu wachsen. Über unsere (bisherigen) Grenzen hinauszuwachsen.

Eine gute, sehr greifbare Basis für dieses Prinzip bildet das Wolffsche Gesetz aus dem 19. Jahrhundert, aufgestellt von dem Berliner Chirurgen Julius Wolff. Es besagt, dass die Knochendichte und damit die Festigkeit von Knochen durch gezielte Belastung zunimmt.

Dieses Phänomen ist auch als Hormesis bekannt: Geringe Dosen schädlicher oder giftiger Substanzen können sich positiv auf Organismen auswirken, ähnlich wie stressauslösende Umweltfaktoren. Solange sie nicht überhandnehmen, können sie die menschliche Widerstandskraft stärken.

Umgekehrt lässt sich sagen, dass wir schwächer werden, wenn wir nicht kämpfen. Wir brauchen eine gewisse Überforderung, um ein gelingendes Leben zu führen. Denken Sie nur an unser Immunsystem, das ohne „Training“ selbst für „normale“ Erkältungen anfälliger wird – zu erleben im Zuge der Pandemie mit ihren Lockdowns, als viele Menschen weniger Reizen, Widerständen und Erregern ausgesetzt waren.

Ohne Überforderung verlieren wir uns in der Komfortzone des Lebens. Zugleich ist klar: Niemand kann sich auf ewig von allen Stressoren fernhalten. Da scheint es doch besser, auf Schläge vorbereitet zu sein, statt von ihnen überrollt zu werden! Um sie und die damit verbundenen Wachstumsschmerzen zu ertragen, brauchen wir unser „Warum“. Und so komme ich zum Schluss noch einmal auf Viktor E. Frankl zurück, zu dessen wichtigsten Botschaften folgende Sentenz gehörte:

„(Es kommt) eigentlich nie und nimmer darauf an, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: was das Leben von uns erwartet. (…) Leben heißt letztlich eben nichts Anderes als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem Einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderung der Stunde.“

9. Leitzsatz: „Inkonsequenz rächt sich – und das ziemlich schnell.“

Wir sind ständig mit einer Vielzahl von Entscheidungen konfrontiert. Und alle Entscheidungen, die wir unter Unsicherheit treffen, sind Wetten auf die Zukunft. Das heißt, wir kennen das Ergebnis nur ex post, nicht ex ante. Stellt sich die Frage, mit welcher Haltung wir diese Entscheidungen treffen.

Sehr gut gefallen hat mir das Motto von Jerzy Gregorek, der einst das Gewichtheben für sich entdeckte, Jahre des Alkohols hinter sich ließ und später vierfacher Weltmeister wurde. Er sagt:

„Easy choices, hard life. Hard choices, easy life.”

Viele Menschen neigen dazu, Entscheidungen zu bevorzugen, die relativ schnell zu einem positiven Ergebnis führen. Es fällt ihnen viel schwerer, heute auf das bekannte kleine Vergnügen zu verzichten, um morgen ein besseres, aber unsicheres Ergebnis zu erzielen. Obwohl das häufig die klügere Wahl wäre. Viele scheuen vor dem zurück, was Jordan Peterson so beschreibt:

„A sacrifice at present is a contract for a better future.”

Dieses Phänomen, das sichere kurzfristige Vergnügen einem unsicheren, aber größerem langfristigen Vergnügen vorzuziehen, wurde in mehreren Experimenten zum sogenannten Belohnungsaufschub nachgewiesen. Das bekannteste ist der „Marshmallow-Test“ zur Impulskontrolle von Walter Mischel, einem in Wien geborenen und später in den USA zu Ruhm gekommenen Psychologen.

Mischel führte in den Jahren 1968 bis 1974 verschiedene Tests mit Kindern im Alter um die vier Jahre durch, bei denen diese zum Beispiel wählen konnten zwischen einem Marshmallow sofort und zwei Marshmallows, wenn sie etwas warteten. Diese Experimente, denen Jahre später Nachbeobachtungen folgten, zeigten, dass Kinder, die in der Lage waren, ihren Impuls besser zu kontrollieren, dazu neigten, in der Schule erfolgreicher und sozial kompetenter zu sein. Auch hatten sie später im Leben bessere Prüfungsergebnisse, harmonischere Beziehungen und weniger Probleme mit Übergewicht.

Matthias Sutter, Verhaltensökonom und Professor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn, hat über die Tücken und Tricks menschlichen Verhaltens ein spannendes Buch geschrieben: „Die Entdeckung der Geduld: Ausdauer schlägt Talent“. Wer das Thema gerne vertiefen möchte, dem kann ich das Gespräch mit ihm in unserer Reihe „SMP LeaderTalks“ sehr empfehlen (zu finden auf Youtube oder hier).

Ein weiterer Aspekt konsequenten (respektive inkonsequenten) Handelns ist die Fähigkeit, Nein zu sagen.

Nein zu einer Bitte, zu einer Anfrage, zu einer strategischen Entscheidung, zu einem falschen Verhalten.

Sehr interessant fand ich in diesem Zusammenhang eine Frage an Muhammad Ali: „What is your central part of training? Is it running? Is it sparring?“ Seine trockene Antwort:

„Central part is dodging nightclubs and the parties and the girls. And being in the bed by yourself at 9 o’clock at night.”

Meine persönliche Erfahrung zeigt, dass fast jede erfolgreiche Veränderung mit einem Nein beginnt. Die Gründe dafür, dass uns das häufig so schwerfällt, lassen sich in zwei Dimensionen finden: dem Bedürfnis nach Konsistenz und Berechenbarkeit sowie unserem Bedürfnis nach Harmonie.

Betrachten wir zunächst die erste Dimension etwas näher: Unser Bedürfnis nach Konsistenz ist nicht zu unterschätzen. Es beeinflusst unser Verhalten auf sehr tiefgreifende Weise. Es drängt uns dazu, mit dem, was wir früher gesagt oder getan haben, übereinstimmen zu wollen, und gibt uns das Gefühl, dass wir in unseren Überzeugungen und Handlungen konsistent sein müssen. Dieses Bedürfnis nach Konsistenz ist fast zwanghaft und lenkt unser Verhalten mit stiller Macht.

Wie Experimente zeigen, lässt sich dieses Bedürfnis nach Konsistenz positiv ausnutzen. So ließ der amerikanische Sozialpsychologe Steven J. Sherman eine Stichprobe von Einwohnern einer amerikanischen Stadt anrufen und vorhersagen, was passieren würde, wenn jemand sie fragen würde, ob sie drei Stunden ihrer Zeit opfern würden, um Geld für die Krebshilfe zu sammeln. Ein großer Teil – fast die Hälfte – sagte zu, offensichtlich aus Gründen der sozialen Erwünschtheit. Als später ein entsprechender Anruf kam und die Frage tatsächlich gestellt wurde, war die Bereitschaft der so „vorbereiteten“ Personen fast achtmal höher als bei den Personen der Kontrollgruppe.

Haben wir uns einmal für einen Standpunkt oder eine Entscheidung entschieden, fühlen wir uns persönlich und zwischenmenschlich verpflichtet, uns entsprechend zu verhalten. Das Problem ist aber eben auch: Haben wir zuvor schon einmal Ja gesagt, kann es verdammt schwer werden, konsequent Nein zu sagen.

Auch die zweite Dimension, unser Harmoniebedürfnis, steht uns häufig im Weg. Sei es in Situationen, in denen Führung gefragt ist, oder in Konfliktgesprächen. Hier scheuen viele Konsequenz, weil sie sie mit Härte verwechseln. Dabei sind Konflikte in der Regel etwas Gutes, denn sie bedeuten, dass wir uns mit einem Gegenüber auseinandersetzen, ihn (oder sie) ernst nehmen, „in Erwartung einer gemeinsamen Zukunft“, wie der Managementexperte Dr. Reinhard K. Sprenger sagt.

Meine Erfahrung zeigt, dass der Schmerz für den am kleinsten ist, der sich am Anfang eines Konflikts befindet.

Es ist besser, früher zu reagieren und konsequent die Weichen richtig zu stellen, als über Monate oder gar Jahre unliebsame Dinge in Kauf zu nehmen, die später in einer – dann häufig unkontrollierbaren – Eskalation münden. Auch bei Fehlentscheidungen, die früh als solche zu erkennen sind, ist rasches Handeln ratsam, um die „Kosten“ niedrig zu halten; je später gehandelt wird, desto „teurer“ werden die Konsequenzen. Das betrifft auch unsere mentale Gesundheit –

wenn wir mit einem inneren Nein leben, aber mit einem Ja handeln.

Das ist aus meiner Sicht die Hauptursache für die meisten Burnout-Erkrankungen.

Im Unternehmenskontext zeigt unsere Erfahrung in der Beratung von Turnarounds oder Transformationen: Zu kurz zu springen ist ein häufiges Phänomen in Veränderungsprozessen, sei es aus Mutlosigkeit, aus Harmoniebedürfnis oder einfach um Schmerzen zu vermeiden. Dabei rächt sich kaum etwas so schnell wie Inkonsequenz in kritischen Unternehmensphasen. Unser Rat ist immer: Handeln Sie konsequent, schneiden Sie tiefer, als es auf den ersten Blick notwendig erscheint, und seien Sie mutig in der Umsetzung Ihrer Maßnahmen.

Schon der tschechische Schriftsteller, Menschenrechtler und Regimekritiker Václav Havel, der im Zuge der Samtenen Revolution in der damaligen Tschechoslowakei 1989 zum Präsidenten aufstieg, soll dieses sehr anschauliche Bild gefunden haben:

„Man kann einen Abgrund nicht in zwei Sprüngen überqueren. Man muss den mutigen Sprung mit einem Mal tun.“

Mein letzter Appell in dieser Sache bezieht sich auf die Unternehmenskultur, die unter anderem durch das Verhalten der Führungskräfte massiv geprägt wird. Im Positiven, aber auch im Negativen. Sehr gut brachten dies die US-Professoren Steve Gruenert und Todd Whitaker in einem Buch über Schulen auf den Punkt:

„The culture of any organization is shaped by the worst behavior the leader is willing to tolerate.“

Dulden Sie kein schlechtes Verhalten Ihrer Führungskräfte. Es ist Gift für Ihre Unternehmenskultur.

10. Leitzsatz: „Kontinuität schlägt auf Dauer Intensität – und das deutlich“

Das erste Mal habe ich mich mit dem Begriff Kontinuität im Kontext der Systemgestaltung zu Erreichung gewünschter Ergebnisse beschäftigt. Vor allem Scott Adams, Bestseller-Autor und Erfinder der Dilbert-Comics hat mich beeindruckt, als er sagte:

„Goals are for losers.“

Die Begründung ist einfach und sehr einleuchtend. Ziele sind spezifische Messgrößen, die man sich für die Zukunft setzt und dann erreicht oder auch nicht. Ziele verkörpern dabei nicht den Prozess, sondern ein Ereignis. Wer es erreicht, freut sich, wenn auch meist nur kurz, wer es verfehlt, betrauert dies – und das gern auch länger. Auf jeden Fall schiebt ein Ziel die Belohnung für all die Mühen, die man aufbringt, um es zu erreichen, in die Zukunft hinaus. Dies ist einer der Gründe, warum so viele Neujahresvorsätze nur Vorsätze bleiben. Ziele zu erreichen, erfordert sehr viel Disziplin und Willenskraft. Sie wirken groß und fern.

Ein weiterer Grund, der gegen Ziele als Instrument spricht, ist, dass Ziele per se nicht differenzierend genug sind. Dies machte James Clear, ein weiterer Bestseller-Autor und Experte auf dem Gebiet der Selbstentwicklung, in seinem Buch „Atomic Habits“ („Die 1%-Methode“) deutlich. Er schreibt:

„Winners and losers have the same goals.”

Will heißen: Ziele machen selten den Unterschied. Sehr viele Menschen wollen Filmstars, berühmte Musiker, Nobelpreisträger, Weltmeister oder Olympiasieger werden. Doch nur wenige schaffen es. Und das hat weniger etwas mit fehlendem Willen zu tun, mehr mit einem Mangel an Hartnäckigkeit und Ausdauer. Vor allem im Sport wird deutlich, dass der Unterschied nicht darin besteht, welches Ziel sich jemand setzt, sondern welches System dahintersteht.

James Clear formuliert es so:

„You do not rise to the level of your goals. You fall to the level of your systems.”

Das Überzeugende an der Idee des systemgestützten Handelns besteht nicht zuletzt darin, dass in diesem Ansatz die Belohnung (oder positive Bestätigung) bereits in der Anwendung des Systems selbst liegt – und nicht nur im Erreichen des fern in der Zukunft liegenden Ziels. So entsteht intrinsische Motivation, die aus rein physiologischer Sicht auf den Ausstoß von Dopamin zurückzuführen ist. Das erleichtert die Steuerung unserer Energie und entlastet unseren Willen deutlich.

Systeme helfen Clear zufolge auch am effektivsten, das „Tal der Enttäuschungen“, das auf dem Weg zum Ziel fast jeder einmal durchschreitet, hinter sich zu lassen. Diskrepanz zwischen Realität und Erwartungen lässt sich kaum für immer vermeiden – wohl aber überwinden.

Clear spricht in seinem Buch von „atomaren“ Gewohnheiten. Diesen Begriff setzt er sehr bewusst ein. Er sieht drei Aspekte, die für ihn in diesem Kontext essenziell sind:

1. atomar – weil sehr klein

2. atomar – weil Teil eines größeren Systems

3. atomar – weil eine Quelle der Energie

Atomare, aber konsistente Verbesserungen im Rahmen des Systems führen über die Zeit zu einem so genannten „Compound Effect“. Demnach kann eine konstante Verbesserung von nur einem 1% pro Einheit nach nur einem Jahr eine enorme Wirkung haben. Beginnen Sie heute mit nur einem Liegestütz pro Tag als Gewohnheit, kann es sein, dass Sie bei konsistenter Anwendung dieser Regel nach einem Jahr nur 365 Liegestütze gemacht haben – doch die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es insgesamt deutlich mehr sind, vielleicht 10.000 Liegestütze. Dank des Compound Effect.

Eine Inspiration stellt für mich diesem Zusammenhang Dave Brailsford dar.

2010 übernahm Dave Brailsford, der damals bereits für die Leistungen der britischen Top-Radrennfahrer zuständig war, zusätzlich den Chefposten beim neuen britischen Radsportteam „Sky“. Bis dato hatte noch kein britischer Fahrer die Tour de France gewonnen. Brailsford ging davon aus, dass ein Fahrer seines Teams in fünf Jahren die Tour de France gewinnen könnte, wenn er mit seiner Arbeit erfolgreich wäre.

Er irrte sich. Bereits 2012 gewann Bradley Wiggins als erster britischer Radrennfahrer die Tour de France. Es folgten weitere Siege mit Chris Froome und Geraint Thomas. Zudem gewannen britische Radsportler unter Brailsfords Führung bei den Olympischen Spielen 2008 und 2012 jeweils 8 von 14 Goldmedaillen in den Radwettbewerben auf der Bahn und der Straße.

Entscheidend für diese enormen Erfolge war Brailsfords Ansatz der „aggregation of marginal gains“. Sein Prinzip war einfach und bestechend: die systematische Verbesserung aller relevanten Aktivitäten nicht um 10%, sondern um nur 1% – dies jedoch konsistent. Inspiriert wurde er dabei durch das japanische Konzept der kontinuierlichen Verbesserung, auch bekannt als "Kaizen". 2015 erklärte Brailsford im Interview mit der US-Managementzeitschrift Harvard Business Review:

„Forget about perfection; focus on progression, and compound the improvements.”

Sie suchten überall nach kleinen Verbesserungen und fanden unzählige Möglichkeiten. Hier ein paar Beispiele, die Brailsford anführte und alle zusammengenommen als großen Wettbewerbsvorteil betrachtete:

  • Durch Experimente im Windkanal suchte sein Team nach kleinen aerodynamischen Verbesserungen.
  • Bei der Analyse des Mechaniker-Bereichs im Teamtruck stellten sie fest, dass sich auf dem Boden Staub ansammelte, der die Wartung der Räder erschwerte. Also strichen sie den Boden weiß, um so Verschmutzungen sichtbar zu machen.
  • Sie engagierten einen Chirurgen, der den Athleten beibrachte, wie sie sich richtig die Hände wuschen, um sich während des Wettkampfs vor Krankheiten zu schützen. Und während der Olympischen Spiele wurden keine Hände geschüttelt (wir reden über eine Zeit weit vor Corona, wohlgemerkt!).
  • Die Athleten bekamen ihre eigenen Matratzen und Kissen, so dass sie trotz unterschiedlicher Hotels jede Nacht in der gleichen Position schlafen konnten.

Andreas Kuffner wählte einen ähnlichen Ansatz, als er Mitglied des Deutschland-Achters im Rudern war und mit diesem 2012 zum ersten Mal seit mehr als 20 Jahren wieder einen Olympiasieg errang. Ich empfehle ein inspirierendes Interview mit ihm in den „SMP LeaderTalks“ (zu finden auf Youtube oder hier).

Es sind diese Beispiele und Überlegungen, die mich in diesem Gedanken bestätigen:

Kontinuität schlägt Intensität.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Fokus nicht auf einzelnen, starren und fernen Zielen liegen sollte, sondern auf den Prinzipen und Regeln eines Systems, die das Handeln tagtäglich beeinflussen, ganz konkret im Hier und Jetzt, und dabei die Chance auf eine deutliche langfristige Verbesserung steigern.

Und wer einmal ein System hat und dieses noch verbessern möchte, der sollte am besten die Regeln dieses Systems permanent kritisch reflektieren und zugleich in die Verbesserung von dessen Kernstärken investieren. Oder wie der US-Autor, Berater und Vortragsredner Darren Hardy sagt:

„It's not the big things that add up in the end; it's the hundreds, thousands, or millions of little things that separate the ordinary from the extraordinary.”

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

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