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Herzfrequenz­variabilität als Fenster zur inneren Balance

Autor

Georgiy Michailov

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Oder: Warum diese Messgröße für unser Leben so wichtig ist

Vor einigen Jahren begann ich, alle möglichen Gadgets wie Fitnesstracker, Schlaftracker oder Glukosemonitore (CGM) zur kontinuierlichen Kontrolle des Blutzuckerspiegels zu tragen. Ich wollte meine Gesundheit und meinen körperlichen Zustand in Echtzeit überwachen, und in der Tat lieferten mir diese Gadgets unglaublich viele Informationen, die mich für meinen Körper sensibilisiert und im Fall des CGM sogar auf ein neues Fitness-Niveau gehoben haben.

Eine Metrik, die für mich neu war, aber in derlei Geräten immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, ist die Herzfrequenzvariabilität (HRV). Die Wissenschaft beschäftigt sich seit den frühen 1960er Jahren mit dieser Größe als einem potenziellen Marker für Resilienz, Verhaltensflexibilität und Entspannungsgrad. Einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet ist der deutsche Sportwissenschaftler und Universitätsprofessor für Trainingswissenschaft Kuno Hottenrott.

An sich ist die HRV ein einfaches Maß für die Variation der Zeit, die zwischen den einzelnen Herzschlägen verstreicht. Um dies zu veranschaulichen, nehmen wir einmal an, dass die durchschnittliche Herzfrequenz bei 60 Schlägen pro Minute liegt. Man könnte nun meinen, dass jede Sekunde ein Herzschlag folgt. Das ist aber nicht der Fall. Das Herz kann in derselben Minute mal mit einer Frequenz von 0,89 und dann 1,11 Sekunden schlagen. Diese einzelnen Zeitabstände werden RR-Intervalle genannt – weil das R für den höchsten Ausschlag der Pulskurve steht und es um den Abstand zwischen zwei Spitzen geht. Ich benutze WHOOP und dort wird die HFV wie folgt gemessen:

Quelle: WHOOP

Dabei zeigen die Millisekunden unten im Kurvenverlauf das RR-Intervall zwischen den Herzschlägen an. Die HFV darüber gibt an, wie groß die Differenz in den Zeitabständen ist, sprich wie stark die Herzfrequenz variiert. WHOOP berechnet sie nach einer bestimmten Formel, doch im Beispiel entspricht sie ungefähr dem Durchschnitt der Unterschiede in den Zeitabständen (das zweite RR-Intervall ist 66 MS kürzer als das erste und das dritte 67 MS kürzer als das zweite).

Gesteuert wird die HFV von einem primitiven Teil des Nervensystems, dem autonomen Nervensystem (ANS), auch bekannt als vegetatives Nervensystem. Es arbeitet hinter den Kulissen und reguliert automatisch unseren Blutdruck, unsere Herzfrequenz, unsere Atmung, unsere Verdauung und andere wichtige Funktionen.

Das ANS ist in zwei Hauptkomponenten unterteilt: das sympathische Nervensystem und das parasympathische Nervensystem.

Die Hauptfunktion des sympathischen Nervensystems (SNS) ist die Aktivierung des Körpers in Stress- oder Gefahrensituationen, um die Kampf- oder Fluchtreaktion auszulösen. Diese Aktivierung besteht aus einer Erhöhung der Herzfrequenz, der Erweiterung der Pupillen, der Mobilisierung von Energiequellen und der stärkeren Durchblutung der Muskulatur.

Das parasympathische Nervensystem (PNS) hingegen ist für die Entspannung und Erholung des Körpers in Ruhephasen verantwortlich. Es senkt die Herzfrequenz, verengt die Pupillen, fördert die Verdauung und unterstützt die Erholung.

Beide Systeme arbeiten normalerweise im Gleichgewicht, um den Körper an unterschiedliche Anforderungen anzupassen. Wenn das autonome Nervensystem im Gleichgewicht ist, signalisiert der Parasympathikus dem Herzen ständig, dass es langsamer schlagen soll, während der Sympathikus das Herz auffordert, schneller zu schlagen.

Die Herzfrequenz­variabilität spiegelt dieses Zusammenspiel wider und zeigt die Dynamik zwischen Sympathikus und Parasympathikus.

Ein ausgewogenes Verhältnis ist entscheidend für eine optimale Anpassungsfähigkeit des Organismus, je nach Belastung.

Eine hohe Herzfrequenzvariabilität bedeutet demnach, dass der Körper auf beide Einflussgrößen – Sympathikus und Parasympathikus – gleichermaßen reagiert.

Eine niedrige HRV bedeutet, dass ein Zweig des autonomen Nervensystems dominiert und stärkere Signale an das Herz sendet als sein Gegenspieler. In den meisten Fällen ist es der aktivierende Sympathikus, der dominant ist.

Früher war die Analyse der HFV nur mit einem langen Elektrokardiogramm-Streifen in der Arztpraxis möglich. In den vergangenen Jahren wurden jedoch tragbare Ringe, Brustgurte, Uhren, Armbänder und sogar Matratzen entwickelt, mit denen die HFV sehr einfach überwacht werden kann. Wie genau diese Messgeräte und Methoden sind, steht noch unter Beobachtung, aber die Technologie verbessert sich stetig.

Daten, die von vielen Menschen gesammelt wurden, zeigen, dass die Variation im Abstand zwischen aufeinanderfolgenden Herzschlägen tendenziell geringer ist, wenn sich das System mehr im Kampf- oder Fluchtmodus befindet. Befindet sich das System in einem entspannteren Zustand, kann die Variation im Abstand zwischen den Herzschlägen größer sein. Hohe HFV sind also besser als niedrige.

Was auf den ersten Blick kontraintuitiv erscheint, ist auf den zweiten Blick verständlich: Wenn wir vor einem großen, gefährlichen Tier fliehen, wird unser Herz uns sehr gleichmäßig und schnell mit Blut versorgen wollen! 

Bevor jetzt alle leicht verwirrt sind, hier ein einfacher Überblick:

Wer entspannt ist, dessen Herzfrequenz ist niedriger, sprich die Abstände zwischen den Herzschlägen sind größer – und auch die HFV ist höher.

Wer angespannt ist, dessen Herzfrequenz ist höher, sprich die Abstände zwischen den Herzschlägen sind kürzer – und auch die HFV ist niedriger.

Mehr Fokus auf die HFV zu richten, bietet uns viele Möglichkeiten. Menschen mit einer hohen HRV haben wahrscheinlich eine bessere kardiovaskuläre Fitness und sind möglicherweise stressresistenter.

HRV kann auch ein Feedback zum persönlichen Lebensstil geben und jene motivieren, die gesünder leben wollen. Wenn Sie mehr Achtsamkeit, Meditation, Schlaf und vor allem körperliche Aktivität in Ihr Leben integrieren, werden Sie Veränderungen der HFV feststellen. Für alle, die Daten und Zahlen lieben, könnte dies eine Möglichkeit sein zu verfolgen, wie ihr Nervensystem nicht nur auf die Umwelt, sondern auch auf Emotionen, Gedanken und Gefühle reagiert.

Man sollte sich nur nicht mit anderen vergleichen. Es gibt keine absoluten Zahlen, an denen man sich orientieren kann, was eine „gute“ oder eine „schlechte“ HFV ist. Sehr nützlich ist indes, die Entwicklung der HFV im Vergleich zur eigenen HFV-Baseline zu beobachten.

Alle meine Gadgets stellen eine explizite Korrelation zwischen erholsamem Schlaf und hoher HFV her. Umgekehrt gilt: Je niedriger die HFV in der Nacht ist, desto geringer ist die Erholungsqualität des Schlafes. Dies wirkt sich noch stärker aus als eine zu kurze Schlafdauer.

In meiner Beobachtungswelt konnte ich auf jeden Fall folgende Faktoren ausmachen, die sich sehr negativ auf meine persönliche HFV ausgewirkt haben:

  • erhöhter Stress,
  • starke Erkältung und
  • unruhiger Schlaf.

Weitere bekannte negative Faktoren sind unausgewogene Ernährung, Angstzustände, Herzerkrankungen, Depressionen und Diabetes.

Die HFV zu verbessern, ist ein recht komplexes Thema, und es gibt dafür verschiedene wissenschaftliche Ansätze. So gibt es ein paar Maßnahmen, die auf evidenzbasierter Forschung zur Förderung einer gesunden HFV beruhen.

Viel Bewegung: Regelmäßiges Herz-Kreislauf-Training – insbesondere Laufen oder Schwimmen – kann die HRV positiv beeinflussen. Viel hilft aber nicht immer viel. Wer mehrere Tage hintereinander trainiert, ohne auf Regeneration zu achten, schickt seine HFV in den Keller. Wer die HFV jedoch in seine Trainingsplanung einbezieht, kann wesentlich intelligenter trainieren. Je höher die HFV im Vergleich zur eigenen Baseline ist, desto höher kann die Belastung sein und umgekehrt.

Auch Atem- und Entspannungstechniken helfen, den Stresspegel zu regulieren. Bekannte Methoden wie Meditation können sich positiv auf die HRV auswirken.

Von Andrew Huberman, Schlafexperte und Professor für Neurowissenschaften an der Stanford University (USA), habe ich die Atemtechnik des „physiologischen Seufzens“ übernommen. Dabei wird zweimal durch die Nase eingeatmet, gefolgt von einem langen Ausatmen durch den Mund. Huberman sagt:

„Zwei oder drei physiologische Seufzer sind der schnellste bekannte Weg, um die autonome Erregung wieder auf ein normales Niveau zu bringen.“

Viel trinken – natürlich Wasser statt Alkohol – hilft ebenfalls, die HFV hochzuhalten. Je besser hydriert der Körper ist, desto leichter kann das Blut zirkulieren und Sauerstoff und andere Nährstoffe durch den Körper transportieren.

Beim Schlafen hilft unter anderem eine feste Routine, wann wir zu Bett gehen und wann wir aufstehen. Das Gleiche gilt für eine gesunde Ernährung und Essenszeiten.

Die Herzfrequenzvariabilität ist mehr als nur eine Zahl auf einem Bildschirm.

HFV ist ein Fenster zu unserem inneren physiologischen Gleichgewicht und liefert uns damit Einblicke, wie es uns geht.

Wenn wir sie verstehen und uns um sie kümmern, können wir unserer langfristigen Gesundheit und unserem Wohlbefinden viel Gutes tun.

Darüber hinaus möchten wir Sie auf unseren LinkedIn Learning-Kurs aufmerksam machen. Mit diesem Link können Sie drauf kostenfrei zugreifen.

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

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