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Insights

Fragilität – Resilienz – Antifragilität

Autor

Georgiy Michailov

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Oder wie man von der VUKA-Welt tatsächlich profitiert

Es hat sich schon rumgesprochen, dass Fragilität keine gute Eigenschaft ist – weder für Personen noch für Organisationen. Sicher, es gibt inzwischen sehr gute Therapien und hervorragende Hilfe, für die einen durch Psychotherapeuten, für die anderen durch Turnaround-Experten. Letztlich ist aber besser dran, wer gar nicht erst in die Not gerät, auf deren Kompetenz zurückgreifen zu müssen.

Seit einiger Zeit wird daher überall über die Widerstandskraft von Personen oder Organisationen gesprochen, genauer: über Resilienz. Völlig zu Recht, denn gerade in der modernen VUKA-Welt mit ihren schnellen, radikalen Veränderungen gewinnt dieses Thema täglich an Bedeutung. Erst vor kurzem konnte ich dazu ein Interview mit Deutschlands führender Expertin auf diesem Gebiet führen, mit Professorin Jutta Heller. Und es war mir eine Freude.

Hier können Sie sich das Interview sehr gerne anschauen: Jutta Heller über individuelle und organisationale Resilienz | LeadersTalks - YouTube

Das Spannende ist: Die Debatte entwickelt sich weiter. Im ursprünglichen Sinn wurde Resilienz noch so definiert:

„Resilience is the ability to withstand adversity and bounce back from difficult life events.”

Demnach geht es – frei übersetzt – um die Fähigkeit, den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen und stets zu alter Stärke zurückzukehren.

Indes, das Ganze lässt sich noch einen Schritt weiter denken. So fasst zum Beispiel die amerikanische Psychologin Karen Reivich, die weltweit führende Expertin auf diesem Gebiet, Resilienz wie folgt auf:

“Resilience is the ability to navigate adversity and to grow and thrive from challenges.”

Zugleich hat Karen Reivich die wesentlichen Faktoren für mehr Resilienz identifiziert. Die wichtigste Botschaft für mich ist in diesem Kontext, dass Resilienz nicht nur auf die genetische Prädisposition zurückzuführen ist, sondern jeder Einzelne Einfluss darauf hat. Hier einige der Erfolgsfaktoren nach Reivich:

1.   Realistischer Optimismus

2.   Impulskontrolle

3.   Selbstwirksamkeit

(“The road to resilience is through self-efficacy not self-esteem.”)

4.   Empathie und starke soziale Beziehungen

5.   Flexibilität im Denken (und dabei vor allem die Fähigkeit, Probleme und damit auch Lösungsansätze aus verschiedenen Perspektiven zu sehen)

Bei vollem Einverständnis mit dem Konzept der Resilienz: Noch mehr fasziniert mich der oben erwähnte Gedanke von Reivich, denn dieser weist eine große Nähe zu einem Konzept auf, das mich schon eine Weile richtig beeindruckt: das von Nassim Nicholas Taleb entwickelte Konzept der „Antifragilität“. Taleb, der in der Finanzkrise mit einem Buch über „Schwarze Schwäne“ – seltene, unvorhersehbare Ereignisse – bekannt wurde, hatte kein Antonym zum Zustand der Fragilität gefunden und kurzerhand seinen eigenen Begriff kreiert.

Der Unterschied zum Begriff Resilienz oder auch Robustheit lässt sich vielleicht am einfachsten am Zitat von Friedrich Nietzsche erklären:

„Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“

Ein gutes, sehr greifbares Beispiel für diesen Gedanken liefert das vom Berliner Chirurgen Julius Wolff aufgestellte Wolff’sche Gesetz aus dem 19. Jahrhundert. Es besagt, dass die Knochendichte und somit die Festigkeit von Knochen durch ihre gezielte Belastung zunimmt. Heute lässt sich dieses Phänomen gut im Thaiboxen beobachten, wo die Profis nach mehreren Jahren Training Palmen brechen können, mit ihren Schienbeinen – und das bereits mit wenigen Schlägen.

Taleb zitiert in seinem Buch Machiavelli (genau genommen, zitiert er Jean-Jacques Rousseau, der wiederum Machiavelli zitiert, also nageln Sie mich bitte nicht fest J). Auch in diesem Zitat geht es um die Frage, wie Menschen stärker werden:

„Allem Anschein nach wurde unserer Republik inmitten all der Morde und Bürgerkriege stärker, die Bürger tugendhafter… Ein gewisses Ausmaß an Unruhe gibt den Seelen zusätzliche Kraft, und die Menschheit wächst nicht aufgrund von Frieden, sondern von Freiheit.“  

Wie lässt sich diese Erkenntnis aus der Zeit um 1500 auf unsere Welt übertragen, die zwar globaler und moderner ist, aber mindestens genauso instabil und sicher um einiges komplexer? Anders gefragt: Was bedeutet Antifragilität heute – wie lässt sie sich als Eigenschaft identifizieren?

Taleb schlägt zu diesem Zweck einen einfachen Test vor:

„Alles was von zufälligen Ereignissen und Erschütterungen mehr profitiert, als dass es darunter leidet, ist antifragil; das Umgekehrte ist fragil.“

Wer es zuspitzen will, könnte sagen: Ist ein antifragiles System keinem Stress ausgesetzt, wird es schwächer. Ähnlich wie unser Immunsystem, das ohne jedes „Training“ leicht anfälliger wird, selbst für „normale“ Erkältungen – etwas, das viele in den Lockdowns während der Pandemie erlebt haben, durch die der menschliche Körper weniger Reizen und Widerständen ausgesetzt war.

Ausgehend von dieser Prämisse, ist es wichtig, über den Grad der Fragilität einer Person oder Organisation zu sprechen. Mögliche Stressfaktoren lassen sich, ähnlich wie „Schwarze Schwäne“, schwer voraussagen, daher ist für die Überlebensfähigkeit von Personen und Organisationen vor allem der konstruktive Umgang mit nicht vorgesehenen Risiken entscheidend. Und damit kommen wir zum größten Erfolgsfaktor bei der Bewältigung von Herausforderungen in komplexen Systemen: Einfachheit! Oder, wie Taleb es ausdrückt:

„Weniger ist mehr und meist auch effektiver.“

Was mich auf Professor Gerd Gigerenzer bringt (ich bin ein Riesenfan!), der die einfachen Lösungsansätze in der komplexen Welt von heute als Heuristiken (Faustregeln) anpreist. Diese seien allerdings nicht absolut zu setzen, sondern immer in Relation zur Umwelt zu sehen. So schreibt Gigerenzer:

„Die Rationalität von Heuristiken ist nicht logisch, sondern ökologisch. Ökologische Rationalität impliziert, dass eine Heuristik nicht an sich gut oder schlecht, rational oder irrational ist, sondern nur in Bezug auf eine bestimmte Umwelt, indem sie sich bestimmte Strukturen einer Umwelt zunutze macht oder diese verändert.“

Ein sehr gutes Beispiel einer Heuristik ist für mich, ganz konkret in meinem Alltag, die Heuristik der „Wertorientierung“: Habe ich in einem Projekt mehrere Entscheidungsoptionen, sollte ich immer die Option wählen, die dem Kunden den höheren Mehrwert bringt. Und mich dabei zur Not auch gegen mehr Umsatz für die eigene Firma entscheiden.

Wer seine Antifragilität, seine Überlebensfähigkeit stärken will, der sollte nicht nur auf einfache (und damit flexible) Lösungen setzen, sondern ruhig auch Risiken und Fehler zulassen. Sie gänzlich vermeiden zu wollen, könnte sich für den Organismus als gefährlich herausstellen. Ähnlich wie beim Immunsystem, ähnlich wie bei „Helikopter-Eltern“, die ihre Kinder vor allen Gefahren beschützen wollen. Letzteres geschieht zwar in bester Absicht, schadet den Kindern jedoch langfristig, denn damit entwickeln sie weniger Widerstandskräfte für die Welt „da draußen“. Der amerikanische Schulpsychologe John Scardina schrieb in diesem Zusammenhang sehr treffend:

“Prepare the Child for the Road, Not the Road for the Child.”

Zum Schluss noch ein letztes, lustiges Beispiel: In ihrem Buch „The Coddling of the American Mind“ beschreiben Jonathan Haidt und Greg Lukianoff die Entwicklung der Erdnussbutter-Allergie bei amerikanischen Kindern seit Mitte der 90er Jahre. Lag der Anteil von Kleinkindern, die auf Erdnussbutter allergisch reagierten, anfangs noch bei 4 von 1000, so war dieser Wert bis 2008 auf 14 gestiegen. Keiner kannte die Gründe, daher war die Empfehlung klar: Die Kinder sind verletzlich und müssen vor der Erdnussbutter beschützt werden.

Groß war die Überraschung, als sich später herausstellte, dass dieses „Beschützen“ genau das Gegenteil von dem bewirkt, was es beabsichtigt: So wurde 2015 eine repräsentative Studie an den für diese Allergie anfälligen Kleinkindern durchgeführt, bei der zwei Gruppen unterschiedlichen Strategien ausgesetzt wurden. Für eine Gruppe galt die gewohnte Strategie der Vermeidung jeglicher Kontakte mit Nüssen, die andere Gruppe wurde gezielt drei Mal die Woche über fünf Jahre hinweg mit kleinen Snacks „gefüttert“. Das erstaunliche Ergebnis: In der beschützen Gruppe haben 17% der Kinder die Allergie entwickelt, in der „antifragilen“ Gruppe nur 3%!

Besser lässt sich der Gedanke, dass die absolute Abwesenheit jeglicher Stressoren weder für Menschen noch für Unternehmen von Vorteil sein dürfte, kaum illustrieren. Und es liegt ja auch in der Logik des Lebens: Niemand kann sich auf ewig von allen Stressoren fernhalten. Da ist es doch besser, für Schläge trainiert zu sein, als unvorbereitet zu sein und von ihnen überrollt zu werden!

Freuen Sie auf den externen Stress, denn dieser macht Sie auf Dauer nur stärker!

Seien Sie antifragil!

PS: Anbei noch einmal der Link zu dem Interview mit Prof. Heller

Es würde uns sehr freuen, wenn Sie unserem neuen Format LeaderTalks folgen würden. 

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

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