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Insights

Über Leben am Limit

Autor

Georgiy Michailov

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Oder: Weshalb Selbstmächtigkeit so wichtig ist

Früher dachte ich, dass Investmentbanker oder Turnaround-Berater am Limit leben. Wie lächerlich dieser Gedanke ist, wurde mir klar, als ich mich in Vorbereitung auf ein Interview mit Reinhold Messner mit seinem Leben beschäftigte – das nun wahrlich ein Leben am Limit war. Vergangene Woche durfte ich diesen faszinierenden Menschen dann auch persönlich erleben – und es war ein beeindruckender, inspirierenden Abend. Aus diesem Anlass hier ein paar Gedanken über seinen Antrieb, ein Grenzgänger zu sein, und die Leidenschaft, die darin steckt.

Reinhold Messner ist eine Bergsteigerlegende. Als erster Mensch hat er alle 14 Achttausender der Welt bestiegen, und das auch noch ohne zusätzlichen Sauerstoff. Er bestieg viele der schwierigsten Berge der Welt und durchquerte später die Antarktis und die Wüste Gobi zu Fuß. Sein Leben war geprägt von extremen Herausforderungen. Immer wieder suchte er sich neue.

Was bewegt einen Menschen, so etwas zu machen? Sich freiwillig in eine menschenfeindliche Welt zu bewegen, in Zonen, in denen er umkommen könnte – um dann nicht umzukommen?

Es ist genau diese hohe Wahrscheinlichkeit, umkommen zu können, die solche Wagnisse von einem Spiel unterscheidet, bei dem einer mit einem doppelten Netz abgesichert ist. Ein Grenzgänger geht bewusst voran, entgegen seiner eigenen Überlebensinstinkte respektive seines Selbsterhaltungstriebs. Die Nahtoderfahrung, die solche Wagnisse mit sich bringen, fühlt sich nach Aussage von Reinhold Messner wie eine Wiedergeburt an, die man immer wieder aufs Neue genießen möchte.

„Wenn ich es schaffe, mit Hilfe meiner Selbstmächtigkeit gegen diese Empfindungen anzugehen, mich zu überwinden oder die Angst ins Gleichgewicht mit meinem Mut zu bringen, gehe ich los. Wenn ich zurückkomme, zuletzt nicht dabei umkomme, habe ich einen Grenzgang hinter mir. Und erlebe das als Wiedergeburt.“

Solche Grenzgänge haben an sich keinen expliziten Nutzen, und doch können sie zu einer Kunst der Selbstermächtigung stilisiert werden, zur Überwindung der Grenzen im eigenen Kopf und dann auch in der Natur.

Die so verstandene Selbstermächtigung – Messner selbst spricht lieber von Selbstmächtigkeit, vom Wissen ums eigene Können, gewachsen aus Erfahrung, mehr als etwas, das da ist, nicht als etwas, das erst erlangt werden muss und eine Frage des Willens ist – hat mich beeindruckt. Vor allem weil wir dadurch das Gefühl der Ohnmacht vermeiden und stattdessen an Eigenmacht gewinnen können.

Es geht um den Kampf gegen die eigenen Grenzen – und den Mut, den Schritt in die (vermeintliche) Unmöglichkeit zu wagen.

Dahinter steckt ein Streben nach persönlicher Autonomie und Eigenverantwortung, gerade auch in schwierigen oder gefährlichen Situationen, vor die uns das Leben oft stellt. Dieses Streben ermöglicht es uns, die Opferhaltung zu verlassen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der Mensch braucht Herausforderungen im Leben, um nicht zu verzagen. Wer nicht über Stolpersteine geht, verlernt das Gehen.

Interessant finde ich auch, wie Messner die Sinnfrage beantwortet. Er ist davon überzeugt, dass der Mensch selbst Sinn stiftet und auch etwas an sich Sinnlosem wie dem Extrembergsteigen einen Sinn geben kann. So war für ihn sein Tun als Grenzgänger sinnlos und sinnvoll zugleich.

Gerade das Nutzlose zwingt zur Sinnfindung.

„Wir haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, Sinn zu geben. Sinn braucht nicht gesucht zu werden, denn er ist nicht zu finden. Er kommt auch nicht von allein. Er wird gegeben, gestiftet. Von uns.“

Messner spricht auch lieber statt von einem „gelungenem“ Leben von einem „gelingenden“ Leben. Ein kleiner, feiner, aber gewichtiger Unterschied. Für ihn geht es weniger um das Erreichen von Erfolgen oder den zufriedenen, satten Blick zurück, sondern darum, Sinn aus dem Tun im Hier und Jetzt zu schöpfen. Gelingendes Leben bedeutet, immer wieder aufs Neue eigene Ideen umzusetzen, den Weg mehr zu schätzen als das Ziel und im Prozess zu wachsen.

So ist es auch mit dem Glück. So sagt Messner:

„Dem Glück kann man nicht hinterherjagen. Das Glück passiert. Und wenn uns klar wird, das war ein glücklicher Augenblick – dann ist er auch schon vorbei.“

Dies ist eine wichtige Erkenntnis, die auch für unseren Alltag gilt. Es ist nicht die Aufgabe eines Arbeitgebers, uns eine sinnvolle Arbeit zu organisieren oder für unser Glück zu sorgen. Die einzigen, die unserer Arbeit Sinn geben können, sind wir selbst, als Individuen. Damit wird die ganze Diskussion um den Purpose eines Unternehmens ein Stück weit obsolet. Natürlich gehört zu unserer Sinngebung auch die Entscheidung, wo wir arbeiten, und je nach Unternehmen kann unser Empfinden, wie sinnvoll eine Tätigkeit ist, stark variieren. Aber am Ende ist Sinn nichts, was wir an Dritte delegieren können.

Zurück zu Messner und seinem Streben nach Grenzgängen. Wenn diese Grenzgänge und die damit verbundene Todesnähe zur Sucht werden, dann weckt jeder Erfolg logischerweise den Wunsch nach der nächsten, noch größeren Herausforderung. So funktioniert schließlich das Dopamin-Karussell. Oder um es mit Daniel Lieberman zu sagen, Professor für die Evolutionsbiologie des Menschen an der Harvard University und Autor eines Bestsellers zum Thema:

„Dopamine has no standard for good, and seeks no finish line. The dopamine circuits in the brain can be stimulated only by the possibility of whatever is shiny and new, never mind how perfect things are at the moment. The dopamine motto is ‚More‘.”

Aus diesem Hamsterrad des Dopamins auszusteigen, ist eine Kunst für sich. Mehr dazu in unserem Beitrag: "Warum Dopamin das Schicksal der Menschheit bestimmt"

Die Nähe zum Tod war für Messner sogar notwendig, um das Leben wirklich intensiv zu leben. In Anlehnung an das tibetische Totenbuch betont Messner, dass derjenige, der glaubt, ewig zu leben, die wahre Intensität des Lebens nie erfahren wird.

Das heißt allerdings keineswegs, dass man solche Risiken unvorbereitet eingehen darf. Im Gegenteil, gerade wenn wir uns Risiken aussetzen, müssen uns so gut wie möglich vorbereiten. Vielleicht hilft uns die Angst dabei, denn sie existiert vor allem im Vorfeld eines Ereignisses, so die Erfahrung von Messner:

„Die Ängste wachsen, wenn ich nicht losgehe, wenn ich losgegangen bin, schrumpfen die Ängste.“

Angst kann uns dazu bringen, sehr sorgfältig über Eventualitäten nachzudenken. Ich war zum Beispiel sehr beeindruckt, wie Messner bei einem seiner Vorhaben mit dem Ausfallrisiko eines überlebenswichtigen Wasserkochers umging. Anstatt sich zu fragen, ob man zwei oder drei davon mitnehmen sollte, lernte er, den Kocher in 100 Teile zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen, um sicher zu sein, dass er funktioniert.

Messner zitiert sehr gerne die Maxime des österreichischen Alpinisten Paul Preuß (1886-1913), dem „Philosophen des Freikletterns“:

„Das Können ist des Dürfens Maß.“

Gemeint ist damit die Einstellung zum eigenen Vermögen als Maßstab für die Grenzen des Erlaubten. Oder wie es ein Magazin mal umformulierte:

„Nur was man garantiert sicher kann, darf man auch durchführen. Man darf, was man kann.“

In Höhen über 8500 m kann nur überleben, wer seine Fähigkeiten wie im Schlaf beherrscht.

Preuß forderte maximale Exposition bei maximaler innerer Sicherheit.

Messner kritisiert auch die Technisierung des eigenen Könnens durch ausgeklügelte Hilfsmittel. In einem bekannten Aufsatz aus Jahr 1968 bezeichnete er diese Tendenz als „Mord am Unmöglichen“ und plädierte für mehr Verzicht und Purismus in der Eigenleistung. Im Gegensatz zum früher vorherrschenden „Expeditionsstil“, bei dem ein Team von Bergsteigern mit Hilfe von Sherpas und anderen Unterstützern versuchte, mit mehreren Tonnen Material einen Gipfel zu erreichen, erfand er den „Alpinstil“, bei dem Berge mit minimalem technischem Aufwand und hoher Geschwindigkeit zu besteigen sind. Damit etablierte er den Verzicht als Stilmittel.

Just dieser Stil ermöglichte es ihm, 1978 als erster Mensch den Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff zu besteigen (gemeinsam mit Peter Habeler) – was damals noch als unmöglich galt. Zudem erlaubten ihm die großen Geschwindigkeitsvorteile seines Stils, drei Achttausender in einem Jahr zu besteigen.

Beschließen möchte ich diesen Beitrag mit einer Botschaft von Reinhold Messner, die mich sehr berührt hat: Er sagt, dass für den Erfolg dieser Grenzgänge nicht Talent, Ausdauer oder Kraft, sondern Leidensfähigkeit das Entscheidende sei. Und dass im Wort Leidenschaft das Leiden immer schon mitgedacht sei. Es braucht somit vor allem die Bereitschaft, Härten, auch Schmerz auszuhalten und zu überwinden, um besondere Projekte zu meistern und außergewöhnliche Erfahrungen zu machen.

Diese Sichtweise war einerseits neu für mich. Zugleich erinnert sie mich an einen Gedanken, den ich in einem anderen Zusammenhang gehört habe:

dass Menschen meist ähnliche Ziele haben – und der unterschiedliche Grad der Zielerreichung insbesondere durch die Unterschiede in der Leidensfähigkeit bestimmt werden.

Wer jetzt neugierig geworden ist, der kann sich schon jetzt auf das Gespräch mit Reinhold Messner freuen – demnächst in unserem Podcast SMP LeaderTalks. Ein wahres Highlight!

Dank exzellenter Gäste wie Prof. Christian Rieck, Prof. Dr. Volker Busch oder Harvard-Professor Felix Oberholzer-Gee gehört er in Deutschland inzwischen zu den topplatzierten Podcasts in der Kategorie „Management“.

Es wäre uns eine große Freude, wenn Sie auch diesem Format Ihre Aufmerksamkeit schenken und uns dadurch weiter unterstützen würden. Sie finden den Podcast auf allen einschlägigen Plattformen, auf YouTube oder einfach auch hier: LeaderTalks

respektive direkt zu den jeweiligen Plattformen: 

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

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