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Insights

Führen in einer Zeit geopolitischer Umbrüche

Autor

Georgiy Michailov

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Wir alle wissen inzwischen, was ein „schwarzer Schwan“ ist. Aber was ist ein „graues Nashorn“?

„Schwarze Schwäne“ sind – nur zur Erinnerung – Ereignisse, die sehr unwahrscheinlich sind, die aber, wenn sie eintreten, enorme Konsequenzen nach sich ziehen. Für die meisten Menschen kommen sie wie aus dem Nichts. Ein Beispiel war die globale Finanzkrise 2007/08. 

„Graue Nashörner“ sind in gewisser Weise das Gegenteil. Geprägt von der US-Autorin Michele Wucker, bezeichnet dieser Begriff Risiken, die bekannt, ja sogar absehbar sind – und von den Menschen trotzdem weithin ignoriert werden. 

Ein Beispiel ist der Klimawandel. Ein anderes ist die globale Geopolitik, in der sich gerade enorme Machtverschiebungen vollziehen. 

Schon in den vergangenen Jahren hatte die schöne, stabile Welt, wie sie vor allem der Westen aus den vergangenen 30 Jahren kannte, erhebliche Risse bekommen. 

Es begann mit der Corona-Pandemie, die sowohl die Zusammenarbeit der Nationen als auch die globalen Lieferketten hart auf die Probe stellte. Schon wenige Krankenfälle reichten aus, um in China ganze Häfen zum Stillstand zu bringen. 

Hinzu kamen Vorfälle wie die Havarie der „Ever Given“, die 2021 den Suez-Kanal – und mit ihm den globalen Handel – fast eine Woche lang blockierte. Spätestens damals erkannten viele Unternehmen, wie schnell aus „just-in-time“ ein „just-not-available“ werden kann und wie interessant regionale Produktion doch ist. 

Dann verdeutlichten Russlands Einmarsch in der Ukraine 2022, die Krise in Nahost und die neue, erratische Zollpolitik der USA unter Donald Trump auch dem letzten Zweifler: Die Zeiten, in denen militärische Aggression die Ausnahme, der Welthandel offen und die Wirtschaft global war, sind vorbei.

Welche tektonischen Veränderungen sich gerade ereignen, welche Akteure auf einmal ganz selbstverständlich einen Platz am Tisch der Weltpolitik einnehmen, das lässt sich vielleicht am besten anhand einiger aktueller Bilder illustrieren.

Nehmen wir zum Beispiel das Gruppenfoto vom Gipfeltreffen der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) Anfang September in Tianjin. 

Zu den Mitgliedern dieser 2001 gegründeten Runde zählen China, Indien, Russland, Belarus, Iran, Kasachstan oder Usbekistan, zu ihren Partnern die Türkei, Saudi-Arabien oder Myanmar. Und so versammelten sich in China mächtige Staatschefs wie Xi Jinping, Narendra Modi, Wladimir Putin, Alexander Lukaschenko, Massud Peseschkian oder Recep Tayyip Erdoğan. 

Es war ein symbolträchtiger Auftritt vieler asiatischer Spitzenpolitiker, unter ihnen zahlreiche Despoten – und eine klare Ansage an die Demokratien des Westens: Wir haben eine andere Vorstellung von der Welt, und mit uns ist zu rechnen. 

Das zweite eindrückliche Bild lieferte ein kleiner, einträchtiger Plausch am Rande des Treffens: Da standen sie auf einmal zusammen, die drei Mächtigsten der SCO – Chinas Präsident, Indiens Premierminister und der Kremlchef. 

Letzterer gebietet zwar nur über 144 Millionen Einwohner, gerade ein Zehntel der Bevölkerung in China oder in Indien. Dafür besitzt Putin einen anderen Trumpf: den Befehl über insgesamt mehr als 5.000 nukleare Sprengköpfe – weit, weit mehr als China (geschätzt 600) und Indien (180). 

Drei Atommächte, drei Staaten, die fast 40 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, und drei Anführer, die sich betont vertraut und gut gelaunt gaben. 

Schließlich das dritte Bild, entstanden nur Tage später: Xi Jinping, wie er in Peking – umringt von Wladimir Putin, Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un und anderen Autokraten – eine gewaltige Militärparade abnimmt. Offiziell, um das Ende des Zweiten Weltkriegs in Asien vor 80 Jahren zu feiern, aber auch, um der Welt zu demonstrieren, dass China sich als Weltmacht und Gegenpol zu den USA versteht. 

Unternehmen, die solche Veränderungen in der globalen Geopolitik ignorieren, gefährden auf lange Sicht ihre Existenz. 

Einer, der Unternehmen dabei hilft, geopolitische Trends zu erkennen, ihre Implikationen zu analysieren und frühzeitig Gegenmaßnahmen einzuleiten, ist Ansgar Baums. Er ist ein erfahrener Manager und Autor des neuen, mit Thomas Ramge verfassten Buchs „Die Stunde der Nashörner. Wie Unternehmen die neuen geopolitischen Risiken managen“. 

Ansgar ist studierter Politikwissenschaftler, arbeitete erst für den Verfassungsschutz in Berlin und dann für den IT-Branchenverband Bitkom sowie SAP. Es folgte eine längere Tätigkeit für Hewlett-Packard (HP), wo er zuletzt eine Einheit aufbaute, die die Führung zu geopolitischen Herausforderungen beriet. Sein Fokus dabei: Halbleiter, Lieferketten, Sanktionen und Abhilfemaßnahmen. 

Seit ein paar Jahren nun berät er Unternehmen, wie sie in Hinsicht auf geopolitische Risiken resilienter werden. Wie das geht und worauf es besonders zu achten gilt, das verriet er kürzlich in einem spannenden Gespräch für die „SMP LeaderTalks“. 

Ansgars Augenmerk liegt – kein Wunder bei seinem Werdegang – vor allem auf der großen Rolle der IT und der Teilung der Welt, die sich dort (wie auch sonst) zwischen China und den USA abzeichnet. Diese Spaltung hat für Unternehmen schon heute konkrete Folgen, wie zwei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zeigen:

2023: Auch auf Druck der USA schränken die Niederlande den Export bestimmter Maschinen des Unternehmens ASML nach China ein. Diese sind zentral für die Produktion hochwertiger Computerchips. 

2025: In Reaktion auf die Zölle der USA schränkt China die Exporte bestimmter Metalle aus der Gruppe der Seltenen Erden ein. Einige Preise steigen zweistellig. „China nutzt Seltene Erden als strategische Waffe“, schreibt die Deutsche Welle. Zwei Drittel der deutschen Importe von Seltenen Erden stammen direkt aus China. 

Die Bipolarität zwischen den USA und China sei neu, sagt Ansgar. Rund 30 Jahre lang hätten die USA als dominierende Weltmacht und technologisch führende Nation in vielen Bereichen klar die Richtung vorgegeben. Diese Ära sei vorüber. 

Wobei Bipolarität, das ist Ansgar wichtig, nicht heißt, dass es nur ein Entweder-oder gibt. Länder könnten sehr wohl verschiedene Strategien wählen. Die einen verstünden sich klar als Verbündete einer Seite, andere aber (wie Indien) eher als Mittler zwischen den Polen, als eigenständige Akteure, als „Blockfreie“. 

Wie aber können, sollen Unternehmen sich in dieser bipolaren Welt verhalten? 

Für sie geht es vor allem darum, ihre Lieferketten zu diversifizieren, Machtverhältnisse zu reflektieren und sich früh Gedanken über Disruptionen zu machen (sei es in Form von Zöllen, Verboten oder politischen Krisen). 

Ein besonderer Fokus sollte Ansgar zufolge auf der Hochtechnologie liegen. Nirgends geht es so sehr um Abhängigkeiten und Innovationsführerschaft wie beim Export seltener Erden, dem Bau von Computerchips oder dem Ringen um die besten KI-Modelle. 

Resilienter werden, sich vorbereiten, um im Ernstfall das Überleben des Unternehmens sichern zu können – das ist das Ziel. 

Szenarien durchspielen und die richtigen Lehren daraus ziehen – das ist das Mittel. 

Berät Ansgar Unternehmen, schildert er den Führungskräften so spezifisch wie möglich theoretische, aber denkbare Fälle.

Zum Beispiel diesen: Militärischer Zusammenstoß vor Taiwan, über das Land, das die globale Chipproduktion dominiert, wird eine Quarantäne von sechs Monaten verhängt – was heißt das für Sie? 

Oder: Streit zwischen China und den USA, China wird vom internationalen Bankenverkehr abgekoppelt – was macht das mit Ihrem Unternehmen?

Wer solche Szenarien durchspielt, der schärft nicht nur sein Gespür für geopolitische Risiken, sondern bekommt rasch auch ein Gefühl dafür, wo Anfälligkeiten bestehen, welche Abteilungen sich intern stärker vernetzen sollten und welche Strukturen künftig nötig sind, um Gefahren systematisch zu überwachen und sich zu wappnen. 

Die „größte mentale Herausforderung“, sagt Ansgar, sei bei all dem die Annahme, dass die aktuellen Krisen der Welt nur temporärer Natur seien. 

Zu glauben, dass wir irgendwann wieder zu einer Welt zurückkehren würden, wie wir sie aus den vergangenen Jahrzehnten gekannt hätten – das sei ein großer Irrtum und gerade auch für Unternehmen gefährlich, warnt er. 

Die alte Welt werde nicht mehr wiederkehren. Vorüber die Zeiten, in der die USA fest an Europas Seite gestanden hätten und China primär ein großer Markt gewesen sei. Auch werde die KI mit all ihren Möglichkeiten nicht mehr verschwinden. Alles andere sei Wunschdenken, ist Ansgar überzeugt. 

Wichtig sei diese Erkenntnis, damit Unternehmen sich an keine falschen Hoffnungen klammerten und nicht in einen Überwinterungsmodus schalteten. Denn dann unterblieben strategische Weichenstellungen oder wichtige Investitionen, und das könne mittel- bis langfristig ihre Existenz gefährden. 

Die mit Abstand wichtigste Regel für geopolitisch resiliente Unternehmen lautet daher: Wer mit dem Zeitenbruch, den wir gerade auf vielen Feldern erleben, produktiv umgehen will, der muss ihn erst einmal als solchen anerkennen. 

Der passende SMP LeaderTalk zum Thema:

10. September 2025

SMP LeaderTalks

#110 | Geopolitische Resilienz als Überlebensstrategie - Georgiy Michailov trifft Ansgar Baums

„‚Graue Nashörner‘ sind vorhersehbare Risiken, gegen die man nichts unternimmt.“

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

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