Seit seiner Wahl zum Präsidenten Argentiniens Ende 2023 ist Javier Milei eine Figur, die Menschen weltweit fasziniert. Im Positiven wie im Negativen.
Die einen verehren ihn als Vertreter einer libertären Politik, der einen überbordenden Staat zurückschneiden und den Markt wieder stärken will. Die anderen sehen ihn als Anarcho mit Kettensäge, der keine Rücksicht auf demokratische Regeln und die sozialen Folgen seiner Politik nimmt.
Wie viele andere verfolge auch ich Mileis Weg mit großem Interesse. Doch ich habe bewusst damit gewartet, ihn ausdrücklich zum Thema zu machen, da ich es für angebracht hielt, einige Zeit zu warten und zu schauen, was geschieht.
Inzwischen ist Milei mehr als 18 Monate im Amt.
Zudem stehen am 26. Oktober wichtige Zwischenwahlen zu Argentiniens Nationalkongress an, bei denen Teile des Abgeordnetenhauses und des Senats neu bestimmt werden. Diese Wahl gilt als wichtiger Stimmungstest und als Plebiszit über Mileis bisherige Amtszeit. Mit Spannung wird erwartet, ob seine Partei, die im Parlament bisher nur über wenige Sitze verfügt, ihren Anteil ausbauen kann.
Ein guter Zeitpunkt für eine erste Zwischenbilanz: Welche Schritte hat Javier Milei bisher unternommen? Welche Erfolge hat er erzielt, wo hapert es noch? Wo haben seine Kritiker Recht, was sagen die Wähler?
Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, habe ich mich jüngst für die „SMP LeaderTalks“ mit Philipp Bagus unterhalten, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universidad Rey Juan Carlos, einer staatlichen Hochschule in der spanischen Hauptstadt Madrid, und Autor mehrerer Bücher (zum Beispiel über den Euro oder die Stärken kleiner Staaten).
Zum einen ist sein jüngstes Buch „Die Ära Milei. Argentiniens neuer Weg“, das im Herbst 2024 erschienen ist, das bisher einzige eines deutschen Autors über Javier Milei, zumal eines, das dessen Wirken aus der Warte des Ökonomen betrachtet.
Zum anderen kennt Bagus den argentinischen Präsidenten persönlich. Vor ein paar Jahren lernten sie sich kennen und blieben in Kontakt. Beide teilen das Interesse an der österreichischen Schule der Ökonomie und eine tiefe Skepsis bezüglich der Rolle des Staates. Zum Buch hat Milei das Vorwort beigesteuert.
Starten muss eine Bestandsaufnahme mit einem kurzen Rückblick. Ohne ihn lässt sich Mileis Aufstieg kaum verstehen. Auch wenn der Versuch, die Geschichte eines Landes im Schnelldurchlauf zu beschreiben, zwangsläufig Dinge vereinfacht.
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Land zwischen dem Rio de la Plata und den Anden eines der reichsten der Welt, sein Pro-Kopf-Einkommen war nicht weit von dem der USA entfernt. Fruchtbares Land, viele natürliche Ressourcen, eine gut ausgebildete Bevölkerung und zahlreiche Zuwanderer bescherten Argentinien Wachstum und Wohlstand.
All das endete mit der Weltwirtschaftskrise. Nach dem Zweiten Weltkrieg strebte Präsident Juan Perón die Industrialisierung des Landes an und stützte sich dabei auf die Verstaatlichung von Unternehmen, hohe Zölle zwecks Importsubstitution, Subventionen und Gewerkschaften. Seit jener Zeit spielte der Staat eine zentrale Rolle im Wirtschaftsgeschehen.
Die Folgen waren Jahrzehnte mit hoher Verschuldung, hoher Inflation, Kapitalverkehrs- und Wechselkurskontrollen, Abwertungen des Pesos und wachsender Armut. Trauriger Höhepunkt der Dauerkrise war der Staatsbankrott Ende 2001, der die Währung des Landes abstürzen ließ und das Vertrauen der internationalen Kapitalmärkte nachhaltig erschütterte.
Politisch herrschte lange Zeit Instabilität. Auf Perón folgten mehrere Putsche und eine Militärdiktatur. Erst in den Achtzigerjahren kehrte Argentinien zur Demokratie zurück. Seither wechselten sich Phasen der Liberalisierung und des Peronismus ab. Die wirtschaftlichen Probleme indes blieben und wurden zuletzt immer größer.
In dieser Lage betrat Milei die politische Bühne. Als scharfer Kritiker der wirtschaftlichen Misere, der politischen Eliten und der Probleme, die sie über die Dekaden aufgetürmt hatten, machte er sich medial einen Namen. Bald galten sein Furor und seine Reden über radikale Reformen vielen nicht mehr als Schrecken, sondern als Verheißung.
Bei der Wahl zum neuen Präsidenten Argentiniens im November 2023 erhielt er dann eine überraschend klare Mehrheit. Im zweiten Durchgang entfielen fast 56 Prozent der abgegebenen Stimmen auf ihn.
Schon kurz nach Amtsantritt sprach Milei von einer „Schocktherapie“, die er dem Land verpassen wolle. Und er sagte deutlich, dass vieles erst einmal schlechter werden würde, bevor es aufwärts gehen könne.
Bei all dem stützt Milei sich auf die österreichische Schule der Ökonomie, die er selbst erst vor rund zehn Jahren für sich entdeckte. Diese Schule, die im 20. Jahrhundert durch Ökonomen wie Friedrich August von Hayek oder Joseph Schumpeter bekannt wurde, betont vor allem die Freiheit des Individuums, den Vorrang des Marktes und die Rolle von Innovation, Dynamik und „schöpferischer Zerstörung“.
In diesem Geiste legte Milei los. Als erstes stutzte er die Ausgaben des Staates. Er halbierte die Zahl der Ministerien, strich Zehntausende Stellen im Staatsdienst, kürzte Subventionen (etwa für Sprit, Strom und öffentliche Verkehrsmittel). Er strich Preiskontrollen und gab die Mieten frei, er privatisierte und deregulierte.
Auch Handelsbeschränkungen, Wechselkurs- und Kapitalverkehrskontrollen hat seine Regierung reduziert oder abgeschafft.
Vor allem sein Vorgehen, das sich auf Sondervollmachten, Dekrete und eine teils brachiale Rhetorik stützt, hat Milei viel Kritik eingebracht. Auf jeden Fall wird die Debatte über seine Maßnahmen und seinen Stil weiter hitzig geführt.
In der Sache allerdings zeichnen sich erste Erfolge ab.
So hat sich vor allem die Inflation, die bei Mileis Amtsantritt mehr als 200 Prozent im Jahr betrug und Argentiniens Bevölkerung schon lange plagt, 2024 fast halbiert. Für das laufende Jahr zeichnet sich sogar ein Rückgang auf rund 40 Prozent ab.
Die gesunkenen Staatsausgaben haben dazu geführt, dass Argentinien zum ersten Mal seit vielen Jahren ein Haushaltsplus ausweist.
Selbst die Armut, die zu Beginn von Mileis Amtszeit in die Höhe gestiegen war, ist inzwischen wieder gesunken, teilweise unter die Werte bei Amtsantritt.
Die Wirtschaft schrumpfte 2024 um 1,7 Prozent. Für das laufende Jahr aber erwartet der Internationale Währungsfonds (IWF) ein Wachstum von 5,5 Prozent, für 2026 ein Plus von 4,5 Prozent.
Auch deshalb gaben IWF und Weltbank Im Frühjahr mehrere Jahre laufende Hilfspakete in Form von Krediten über insgesamt 32 Milliarden Dollar frei.
Was den Blick auf weiter existierende Probleme lenkt, denn Argentinien braucht das Geld von IWF und Weltbank. Die globalen Kapitalmärkte vertrauen dem Land nach wie vor nicht. Wer so häufig seine Währung abgewertet oder Schulden nicht beglichen hat, dem leiht die Finanzwelt erst wieder Geld, wenn sich seine Politik und seine Wirtschaft als nachhaltig solide erwiesen haben. Das dauert.
Auch Steuer- und Strukturreformen stehen bisher noch aus. Der Widerstand der politischen Opposition, einzelner Gerichte und seitens der Straße ist groß und zwingt Milei immer wieder, Maßnahmen zu verschieben oder zu begrenzen.
Gleichzeitig stoßen Mileis Art, Klartext zu reden, und seine rigorose Agenda aber auch weiter auf viel Zustimmung. Bei Lokalwahlen in der Hauptstadt Buenos Aires zum Beispiel erhielt seine Partei im Mai mit rund 30 Prozent die meisten Stimmen, vor der peronistischen Linken und der zuvor dominierenden Partei PRO.
Umfragen deuten darauf hin, dass seine Partei auch bei den Kongresswahlen Ende Oktober etliche Sitze dazu gewinnen könnte.
Klar ist: Mileis Aufstieg hat sehr viel mit den besonderen Problemen und Verhältnissen in Argentinien zu tun. Seine Politik eins zu eins auf andere Staaten zu übertragen, hieße, wichtige Unterschiede zu verkennen.
Dennoch: Milei und Argentinien, das ist ein radikales wirtschaftspolitisches Experiment in Echtzeit, das die Welt mit großem Interesse verfolgt. Es bleibt ein Impuls, der die Debatte auch hierzulande befeuert.